Donnerstag, 1. Dezember 2016

Der Verkauf von Unter Verdacht ist eröffnet

und darum gibt's jetzt wirklich keine neuen Leseproben mehr. Das Taschenbuch gibt's überall, wo es Bücher zu kaufen gibt, 10.00 Euro, und bei Amazon.
Das E-Book ist exklusiv bei Amazon erschienen, es kostet 2,99 Euro. Wer keinen kindle hat, kann bei Amazon eine App fürs Tablet herunterladen. Auf dem Computer lesen ist, ehrlich gesagt, nicht so angenehm.

Montag, 28. November 2016

Allerletzte Leseprobe Unter Verdacht

 Unter Verdacht 
 Kapitel 6 Anfang
„Guten Morgen, Frau Kolb. Herr Angerhaus hat mir inzwischen so viel von den interessanten Themen Ihres Geschichtsvereins erzählt, dass ich gern einmal dazukommen möchte.“ Ruth gedachte, den Stier bei den Hörnern zu fassen. Bei einer Zusammenkunft könnte sie vielleicht das eine oder andere mitbekommen.
„Geschichtsverein?“, fragte Frau Kolb. „Ach ja, jeder nennt unsere Zusammenkünfte anders. Auch Ihnen einen guten Morgen, Frau Bergmann. Natürlich freuen wir uns, wenn Sie dazukommen, vielleicht können Sie unsere Themen ergänzen. Ich habe gehört, dass Sie sich für romanische Kirchen interessieren.“ Gute Kommunikation unter den Dreien.
„Ja, tatsächlich, ich habe mich mal im Norden von Düsseldorf umgesehen. Kaiserswerth, Kalkum, Wittlaer und ein Vorort von Duisburg – Mündelheim. Schöne Kirchen mit reicher Geschichte.“
„Also herzlich willkommen. Wir treffen uns immer montags, in wechselnder Runde. Um zwanzig Uhr heute Abend im Raum Wuppertal, den stellt man kleinen Gruppen wie uns netterweise zur Verfügung.“


Das war geschafft. Ob sie wohl so etwas wie eine inoffizielle Aufnahmeprüfung zu bestehen hatte? Sie hatte tatsächlich vor ein paar Jahren Ausflüge zu diesen Kirchen unternommen. Hatte sich Notizen gemacht. Doch wo waren die? Papier? Nein – Computer. Nichts. Zu lange her. 2006. Da half nur der museumsreife Speicherstick aus ferner Vergangenheit. Tatsächlich. Schnell das Wichtigste auf Word übertragen und ausgedruckt.
Ruth erinnerte sich, dass sich die romanischen Kirchen mit etwas berührten, was sie interessierte: Römer im Rheinland. Natürlich über einige Ecken. Die Kirchen in Mündelheim, Wittlaer und Kalkum waren von drei „Juffern“ gegründet worden. Da gab es einiges nachzulesen. Aber die Verbindung zu den alten Römern war klar: die „drei Matronen“. Kurz rekapituliert – Hauptheiligtum Bonn, viele Weihesteine in der Eifel. Davon hatte Eveline ihr mal Bilder gezeigt. Ruth kannte sie aus der Literatur. Ha! Da konnte sie Wintzig beweisen, dass auch sie selbst Kenntnisse hatte. Wieso eigentlich der Wintzig?
Ruth hielt den Speicherstick in der Hand und musste grinsen: 128 MB Kapazität. Sie erinnerte sich genau an den Tag der ersten Begegnung mit diesen Wunderdingern. Herr Oppermann kam in den Computer-Club und rief triumphierend aus: „So etwas habt ihr noch nicht gesehen!“ Das stimmte. Eine höchst willkommene Ergänzung des mageren Speichers im PC. Und man konnte die Daten transportieren. Das führte Herr Oppermann gleich vor. Der arme Herr Oppermann, auch schon tot.

„Kommen Sie herein, Sie sind uns willkommen“, sagte Gudrun Kolb, als Ruth vorsichtig die Tür zum Raum Wuppertal öffnete. Beinahe wäre sie zurückgeprallt – der Raum war voll. Gudrun Kolb natürlich, präsidial am Kopf des Tisches thronend, nahe der Tür, links neben ihr Friedhelm, rechts neben ihr Wintzig. An Friedhelm schlossen sich an das Ehepaar Overkamp und Frau Heltrup. Neben Wintzig ein Ehepaar, das Ruth zwar vom Sehen kannte, nicht aber ihren Namen. Sie nahm also gegenüber von Frau Heltrup Platz. Sah sehr nett aus, fand Ruth, sehr gepflegt, schicke Frisur – echt blond? Die blauen Augen, die von der modischen Brille fast verdeckt wurden, hätten dazu gepasst. Seltsam, wie wenige Nachbarn eine Brille trugen. Vielleicht das Ergebnis gelungener Staroperationen?
Auf den zusammengerückten Tischen standen Gläser und die obligatorischen Wasserflaschen. Der Platz gegenüber von Gudrun Kolb war leer. Würde er wohl auch bleiben, denn Frau Kolb begrüßte jetzt die Teilnehmer. Es war wohl Glorias Platz gewesen. Gudrun stellte Ruth kurz vor. „Sie kennt sich mit romanischen Kirchen aus.“

Es wurde ein ganz interessanter Abend. Wintzig erzählte von ihrem gestrigen Besuch der romanischen Kirche in Hilden, sprach kurz über die alten Straßen, die sich im Nachbarort kreuzten, und lächelte dabei Friedhelm zu, dem Straßenkenner. Der Gegensatz zwischen Gudrun und Hilde Wintzig hätte größer nicht sein können. Gudruns dunkle, lebendige Augen, ihr volles, dunkles Haar – und Hilde Wintzig blassblond mit blassblauen Augen. Dass Neid im Spiel sein konnte bei der Anschuldigung Hildes, schien Ruth plausibel. Ansonsten hatte sie den Eindruck, dass die Dreiergruppe, die hier zusammensaß, ein Herz und eine Seele war – den Eindruck vermittelten sie, oder versuchten sie es nur?

Ruth wurde aufgefordert, etwas über die Kirchen zu sagen, die sie erwähnt hatte. Es fiel ihr leicht, sie war vorbereitet. Auch sie konnte – mit einem Lächeln zu Friedhelm – von einer alten Straße berichten, von der „hilige straat“, ein Prozessionsweg, der von Essen-Werden über Hösel, Ratingen, Kalkum nach Kaiserswerth zur Suitbertus-Kirche verlief. Natürlich erwähnte sie ihre Quelle: den Düsseldorfer Geschichtsverein. Die drei Juffern streifte sie nur kurz, da war sie nicht sattelfest. Ihre Erwähnung fand aber Beachtung, sie wurde mit einem dreieinigen Lächeln von Gudrun, Wintzig und Friedhelm quittiert. „Drei-Frauen-Legenden“ gehörten wohl zum Wissensfundus des Geschichtsvereins.

Friedhelm ergänzte einiges zu den Straßen und dann begann der legere Teil des Abends. Eine der jungen Frauen, die nur abends in der Cafeteria bedienten, nahm die Bestellungen auf – es durfte auch Alkohol sein. Alle versuchten ein paar Worte mit Ruth zu wechseln. Man freute sich anscheinend über einen zu erwartenden Zuwachs.

Ruth hatte Zeit, sich umzusehen. Der „Raum Wuppertal“ lag nahe beim Großen Salon, er war im Gegensatz zu anderen Räumen im Haus am Kirchberg recht schlicht eingerichtet. Außer dem großen Tisch und den Stühlen gab es nur ein ziemlich altes Sideboard. Ruth wusste von der Literatur- und von der Singgruppe, dass sie diesen Raum auch nutzten.

Freitag, 18. November 2016

Unter Verdacht Leseprobe Nr. 7

 Unter Verdacht Kapitel 5
„Hallo Frau Bergmann, wir haben uns ja lange nicht gesehen, wie geht’s denn?“ Frau Blumenthal, Irmi Blumenthal, kam auf Ruth zu und schüttelte ihr beide Hände.
„Ich habe mich auch gefragt, wo Sie sind – sonst liefen wir uns doch öfter mal über den Weg“, sagte Ruth. Sie freute sich, die Nachbarin wiederzusehen; es kam vor, dass man einander gar nicht mehr wiedersah.
„Es liegt an mir, ich hatte eine Einladung zu einer Rundfahrt über die Kanäle im Osten und das wollte ich mir nicht entgehen lassen. Anschließend bin ich in Lüneburg am Elbe-Seitenkanal hängengeblieben und so vergeht die Zeit.“
„Beneidenswert“, sagte Ruth und beneidete Irmi Blumenthal wirklich. Wie lange hatte sie nicht mehr auf einem Boot gestanden oder gar damit eine Fahrt unternommen. Vorbei.
„Davon müssen Sie mir unbedingt mehr erzählen“, sagte sie und die beiden Damen ließen sich auf den rosengeblümten Sesseln in der Halle des Hauses am Kirchberg nieder.
Irmi Blumenthal legte los, außer Ruth kannte sie niemanden, der sich für Boote interessierte. Sie hatten beide zusammen mit ihren Ehemännern eine praktische Elf-Meter-Yacht gehabt, nicht zu groß und nicht zu klein. Fahrten durch die Kanäle, mal in Deutschland, mal durch Frankreich, hatten auch Ruth und ihr Klaus genossen.
Irgendwann wurden die Kehlen trocken und man bewegte sich in Richtung Cafeteria. Ruth schilderte die Weimar-Fahrt und die Folgen. Irmi Blumenthal aber wunderte sich nicht, dass es Gloria Molenbeck „erwischt“ hatte, wie sie sagte.
„Die Gute war ein wenig zu sehr von sich überzeugt. Eigentlich sind wir alle aus dem Alter heraus, dass wir uns für das andere Geschlecht interessieren, auch wenn man den einen oder anderen schon mal etwas näher kennenlernt. Bei Frau Molenbeck war es nicht der eine oder andere, sondern gleich eine ganze Hand voll.“
Ruth merkte auf und hoffte, dass ihre Begleiterin etwas mehr wüsste. Die ließ sich nicht bitten, sondern erzählte gleich weiter: „Der armen Frau Wintzig hat sie den Herrn Angerhaus ausgespannt und der ließ sich das gern gefallen. Ist ein flottes Kerlchen, wenn ich das mal so sagen darf.“ Ruth wusste nicht so recht, was sie sagen sollte, entschloss sich aber schnell, damit herauszurücken, dass auch sie Herrn Angerhaus’ Gesellschaft zu schätzen wisse. „Er hat enorme Geschichtskenntnisse“, fügte sie an, um keinen anderweitigen Verdacht aufkommen zu lassen.
„Ja, das stimmt, er hat mal einen Vortrag über Straßen gehalten, wie heißen sie doch gleich?“
„Gerade Straßen, vorwiegend wohl in England vertreten.“
„Ja, richtig, ‚Gerade Wege in England‘, das war sein Thema. Ist etwas länger her. Frau Wintzig hing an seinen Lippen, sie ist wohl auch in diesem Geschichtsverein. Ebenso die berühmt-berüchtigte Gloria.“
„Wieso denn berühmt-berüchtigt?“
„Wissen Sie das nicht? Sie hat mit Frau Kolb zusammen Séancen veranstaltet, keine Ahnung, wer da sonst noch teilgenommen hat. Ich jedenfalls nicht – Firlefanz.“
Die beiden Hexen. Da war es wieder. Nicht die Schwestern, sondern Gudrun und Gloria? Oder?
„War Frau Wintzig denn auch dabei?“
„Keine Ahnung. Sie scheint mir ein bisschen zu langweilig dafür zu sein, aber wer weiß? Es heißt übrigens, dass sie mal eine Zeitlang in der Praxis von Frau Dr. Molenbeck gearbeitet hat.“
„Die seltsamsten Verwicklungen gibt es hier im Haus“, sagte Ruth, „auch uns verbindet ja etwas, was sonst niemanden interessiert.“ So kamen sie wieder zu den Erinnerungen an frühere Zeiten zurück. Dass sie selbst an einer Séance teilgenommen hatte, zusammen mit Gloria und Gudrun, erwähnte Ruth nicht. Mit berühmt-berüchtigten Damen wollte sie lieber nicht in Zusammenhang gebracht werden.

Wer waren nur diese verdammten Hexen? Mit dem Wort Hexen hätte Ruth jetzt am ehesten die Damen und Herren vom Geschichtsverein verbunden. Da musste sie ansetzen, wenn sie weiterkommen wollte. Wer genau dazugehörte, wusste sie nicht, sie musste also mit Angerhaus Kontakt aufnehmen. Zunächst einmal telefonisch.

„Herr Angerhaus, wir haben letztens darüber gesprochen, wer Gloria Molenbeck in Weimar erstickt haben könnte, sollten wir uns nicht noch einmal darüber austauschen?“
„Nichts lieber als das. Wir könnten uns mal abends zusammensetzen, nicht gerade bei Kerzenschein, aber bei einem Gläschen Wein.“
„Gut, dann vielleicht gleich heute Abend – um acht Uhr?“
„Abgemacht.“

„Lieber Herr Angerhaus, wer gehört eigentlich alles zu Ihrem Geschichtsverein?“ Ruth konnte sich ein leichtes Lächeln nicht verkneifen. Angerhaus gab bereitwillig Auskunft.
„Von denen, die Sie von der Reise her kennen, Frau Kolb natürlich, die Initiatorin, dann Hilde Wintzig, das Ehepaar Overkamp. Die arme Gloria und meine Wenigkeit. Darüber hinaus ein weiteres Ehepaar, gelegentlich Ingeborg Heltrup.“  Er war ganz stolz, dass es doch eine größere Gruppe war, die zum Geschichtsverein gehörte, es hätte für einen „richtigen“ Verein gereicht.
„Ach, Frau Bergmann, könnten wir uns nicht duzen? Ich weiß, dass Sie die Initiative ergreifen sollten, aber mir würde es gefallen, wenn Sie ja sagen würden. Und in unserer Geschichtsrunde duzen wir uns sowieso fast alle.“
Ruth hatte ganz und gar nichts dagegen, sie fand Angerhaus sehr nett. Sie hob ihr inzwischen gefülltes Weinglas und meinte: „Ja, gern, lieber Friedhelm, das ist doch dein Name? Das ist aber noch nicht der Einstieg in deinen Geschichtsverein.“
Was Hexen betraf: Weder Gudrun Kolb noch Hilde Wintzig konnte Ruth sich auf dem Blocksberg vorstellen. Sollte der Geschichtsverein also eine Sackgasse sein? Sackgasse statt geradem Weg.

Na, wenn schon, Friedhelm immerhin war ein Gewinn – natürlich wegen seiner interessanten Geschichtskenntnisse. Und um ihm eine Freude zu machen, fragte sie ihn nach den geraden Wegen und ob es die auch in Deutschland gebe?
„Aber ja, auch hier in Deutschland gibt es viele gerade Wege. In England hat man sie besser erforscht. Dort bilden sie Verbindungen zwischen Kultstätten und Kirchen – hier gibt es zum Beispiel die Totenwege.“
„Was ist denn das? Totenwege? Seht ihr Gespenster?“
„Nein, nein, das sind gerade Wege, auf denen man Verstorbene zu Friedhöfen gebracht hat. Wir haben mal einen Ausflug zu einem solchen Weg gemacht. Von Niederkrüchten nach Odilienberg.“
„Ihr wart im Elsass?“
„Nein, nicht im Elsass, der Weg liegt am Niederrhein. Schnurgerade führt er von Niederkrüchten über die Grenze nach Holland, nach Odilienberg.“
„Diese Heilige scheint mehrere Verehrungsstätten zu haben.“
„Ja, hat sie. Ich glaube, dass dir unsere Treffen und unsere Ausflüge gefallen werden.“
Treffen und Ausflüge mit Angerhaus – warum nicht?
„Aber was hat es mit den Totenwegen auf sich?“
„Darüber gibt es verschiedene Meinungen. Die Nächstliegende ist, dass die Toten an einer geheiligten Stelle beerdigt werden sollten, denn nicht jedes Dorf oder vielmehr jeder Weiler hatte eine Kirche und einen Friedhof.“
„Und was weiter?“
„Ja, das geht schon eher zurück in frühe Zeiten: Man wollte verhindern, dass der Tote zurückkehrte in seine Heimatgemeinde.“
„Aber auf geraden Wegen hatte er es besonders leicht, denke ich.“
„Klingt logisch, aber es gibt verschiedene Theorien dazu und über so etwas reden wir im Geschichtsverein.“
Na, warte, wozu gibt es Google, dachte Ruth und ließ von Friedhelm ab. Sie blickte sich in der Cafeteria um und sah die Augen von Hilde Wintzig auf sich gerichtet. Sie hatte schon seit einer Weile das Gefühl gehabt, dass Friedhelm und sie unter Beobachtung standen, hatte es aber abgeschüttelt. Nun fragte sie sich natürlich, galt das ihr oder galt es Friedhelm. Vielleicht störte es Frau Wintzig, dass Angerhaus mit ihr zusammensaß. Sicher wüsste sie gern, was da beredet wurde. Hatte Irmi Blumenthal nicht erzählt, dass Hilde Wintzig recht eifersüchtig gewesen war, was Gloria betraf.
„Wir treffen uns hin und wieder auf ein Gläschen Wein und reden auch über Themen, die nichts mit Geschichte zu tun haben. Allerdings, da fällt mir gerade ein: Wie wäre es mal mit einem kleinen Trip nach Hilden, da gibt es eine sehr schöne romanische Kirche, leider nicht so bekannt wie andere. Es lohnt sich.“
„Ja, warum nicht? Ist ja nicht allzu weit.“

Mittelalter, Hexen – Ruth kam nicht los von dem leidigen Thema. Dabei hatte Friedhelm es nicht einmal erwähnt – er gehörte lediglich einem Geschichtsverein an. Es war ihre eigene üppige Fantasie, die immer wieder bei diesem Reizwort landete. Nein – der Stachel bestand darin: Es waren Evelines Worte gewesen.

Mittwoch, 16. November 2016

Unter Verdacht Noch eine Leseprobe


So geht es weiter:

„Fein, dass ich Sie treffe, Frau Bergmann. Ich habe ein Problem, bei dem Sie mir vielleicht helfen können.“
„Dann kann es sich nur um eine Frage rund um den Computer handeln, Herr Angerhaus.“
„Ja, stimmt. Ich habe gehört, dass Sie Fachfrau sind.“
„Sehr schmeichelhaft, um was geht’s?“
Friedhelm Angerhaus hatte Ruth angesprochen, als beide den Frühstücksraum verließen. Morgens war es der Frühstücksraum, nachmittags und abends die Cafeteria. Das Angerhaus’sche Problem war schnell gelöst, aber Angerhaus blieb an Ruths Seite.
„Sie haben mit Herrn Wunderlich über Gloria gesprochen, habe ich von ihm gehört.“
„Ja. Stimmt. Sie ist leider so traurig geendet und ich wusste nicht viel von ihr. Hatte im Grunde nur Kontakt mit ihr bei der Séance in Weimar, bei der sie anschließend …“
„Nach der man sie umgebracht hat.“ Ruth hatte den Eindruck, dass Friedhelm Angerhaus gern über Gloria sprechen wollte, er hatte sie bekanntermaßen verehrt. Sie sah ihn also forschend an, er hatte so einen verschmitzten Ausdruck im Gesicht, um die Mundwinkel und in den blauen Augen. Passte gar nicht zu dem ernsten Thema. War vielleicht seine Grundhaltung dem Leben gegenüber. Er redete weiter. „Ich kannte sie in erster Linie aus den Treffen mit Frau Kolb. Das ist eine so interessante Runde.“ 
Ruth hörte aufmerksam zu, das interessierte sie wirklich. Leider, leider war man am Aufzug angekommen, aber Ruth konnte in der Fahrstuhlkabine noch sagen: „Frau Kolb hat mich kürzlich angesprochen, ob ich nicht einmal mitmachen möchte.“
„Das sollten Sie tun, es eröffnen sich ganz neue Welten.“ Ruth fasste allen Mut zusammen und fragte: „Könnten Sie mir im Ausgleich zur Computerfrage darüber etwas erzählen?“
„Aber gern, nachmittags in der Cafeteria? Fünfzehn Uhr?“
„Abgemacht.“  Ein Bündel von Neuigkeiten erwartet mich – hoffte Ruth.

Friedhelm Angerhaus hatte einen Platz am Fenster ergattert und winkte heftig, als Ruth hereinkam. Er war wie immer guter Laune und seine blauen Augen funkelten mit den Sonnenstrahlen um die Wette – dachte Ruth. Er war einer aus der jüngeren Riege im Haus am Kirchberg, einer der wenigen Jeansträger, oft ein schwarzes Hemd dazu. Flotte Jacken und Westen, je nach Anlass. Und – selten hier im Haus – volles, immer noch blondes Haar. Merkwürdig, dass Gloria so wenig Interesse an ihm gehabt hatte. Oder doch?

Sie lebten hier in einem Haus voller Geheimnisse. Wer mit wem etwas unternahm, was und wo – darüber tratschte man gern. Wer wen schon früher gekannt hatte oder vielleicht irgendwelche längst verstorbenen Familienangehörigen, woher manche Abneigungen stammen könnten – darüber wurde gerätselt. Es diente jedenfalls der Unterhaltung beim abendlichen Gläschen Wein in der Cafeteria.
Ruth konnte in Ruhe darüber nachdenken, denn Angerhaus war zur Kuchentheke gegangen, um die Torten auszusuchen, die sie gleich verspeisen würden.
„Erledigt“, sagte er und schwenkte die Zettelchen, auf denen die Bestellungen vermerkt waren. Wieder fiel Ruth der verschmitzte Ausdruck auf, anscheinend hatte er den immer.
„Esoterik bei Kaffee und Kuchen im hellen Sonnenschein, passt denn das zusammen?“, fragte Ruth ein wenig provokant. „Ich stelle mir da eher einen Abend mit fahlem Kerzenschein vor.“
„Wir sind da nicht so festgelegt und außerdem wollen wir ja nur darüber reden. Sozusagen ohne Anfassen.“ Angerhaus grinste. Anfassen? Nein danke.
„Eigentlich geht es bei unseren Treffen eher selten um Esoterik, das ist nicht mein Interessensgebiet. Wir sprechen viel darüber, was wohl die Menschen in früheren Jahrtausenden gedacht und geglaubt haben – haben könnten, denn Aufzeichnungen gibt es nicht, außer natürlich Felszeichnungen. Ich meine nicht die wundervollen Tierbilder aus der Altsteinzeit, so weit gehen wir nicht zurück. Nein, das, was man in den Megalithbauten sehen kann.“ Böhmische Dörfer.
„Das scheinen mir Themen zu sein, die Sie faszinieren, ich höre die Begeisterung heraus. Aber leider, da kann ich nicht mithalten. Wie ich schon Frau Kolb gestanden habe – bei mir beginnt die Geschichte bei den Römern.“
„Sicher interessant, ganz sicher. Aber längst nicht so geheimnisvoll wie die Zeit, die uns am Herzen liegt. Das Geheimnisvolle, das ist das, was uns reizt. Man weiß nichts Genaues und so hat jeder die Möglichkeit, eigene Gedanken dazu zu entwickeln.“
Das war eigentlich auch nach Ruths Geschmack, sie konnte sich an Gespräche mit Eveline erinnern, als sie sich eigene Gedanken zu allem Möglichen gemacht hatten. Sie musste lachen, was Angerhaus aber missverstand. 
„Das ist eigentlich ein ernstes Thema, liebe Frau Bergmann. Was erheitert Sie denn daran?“
„Bitte entschuldigen Sie, aber ich dachte an die eine oder andere Verschwörungstheorie, die meine Freundin Eveline und ich entwickelt haben.“
„Verschwörungstheorien, na, ja, so weit liegt das nicht auseinander. Aber wir haben auch Fakten, auf denen wir fußen.“ Ruth war höflich und blieb aufmerksam.
„Nehmen wir mal die Theorien über die geraden Wege.“
„Gerade Wege. Römerstraßen zum Beispiel sind ausgesprochen gerade Wege.“
„Meine geraden Wege sind um einiges älter, sicher haben die Römer oft nur etwas weitergeführt, was es bereits gab.“
„Und was hat es mit Ihren Straßen auf sich?“
„Ich habe mal eine Studienreise nach England mitgemacht, die sich diesen Wegen widmete. Wir sind über sie gewandert. Dass sie eine Bedeutung haben, sieht man schon daran, dass häufig Gräber – vielleicht Kultstätten – an ihrem Rand liegen.“
„Das sind Dinge, von denen ich gar keine Ahnung habe.“
„Ich kann Ihnen gern Literatur dazu ausleihen.“
„Mal sehen.“
Ruth war verblüfft über die Begeisterung und die Kenntnisse von Angerhaus. Sie hatte gedacht, er sei nur Teilnehmer der Runden bei Frau Kolb, um Gloria näher sein zu können. Er hatte das eine mit dem andern verbunden.

Inzwischen waren die Tortenstücke verputzt, der Kaffee ausgetrunken und Ruth war noch weit von dem Thema entfernt, das sie bei Angerhaus anschneiden wollte: Gloria Molenbeck. Aber eigentlich müsste das leicht sein, denn er hatte sie offensichtlich verehrt. Also …
„Ich mache mal einen Sprung zurück ins Hier und Jetzt; ich wollte Sie fragen, ob Sie den Umkreis von Gloria Molenbeck kennengelernt haben.“
„Ach, wozu wollen Sie das denn wissen?“
Ruth gab sich einen Ruck und war ehrlich. „Ich bin von einem Freund der Frau, die wegen des Mordes an Frau Molenbeck im Gefängnis ist, gebeten worden, etwas mehr über Frau Molenbeck herauszufinden. Ein Mord geschieht nicht einfach so, in den meisten Fällen hat er etwas mit dem Leben des Opfers zu tun. Und ich weiß so gar nichts über sie.“
Angerhaus war ganz still geworden, seine Hochstimmung war dahin.
„Ja, da mögen Sie wohl Recht haben. Ich habe auch darüber nachgedacht, wer Gloria das angetan hat. Sie hat keine Verwandten, ihre Männer sind alle tot. Das hat sie jedenfalls gesagt. Und hier im Haus kannte sie niemanden näher. Auch darüber haben wir gesprochen. Ab und zu nahm sie sich mal Zeit für mich und ließ sich von meinen Reisen in die Vergangenheit erzählen. Wir hatten ein ganz besonderes Verhältnis zueinander. Meine Erklärung ist die, dass die Freundin aus alten Tagen einen Grund hatte. Frau Ludwig hat mir von dem Fortgang in Weimar erzählt, sie hat weiter Verbindung zu der Pension, in der sich alles abgespielt hat.“
Nix bleibt verborgen im Haus am Kirchberg.

Später ließ Ruth alles Revue passieren, was sie am Nachmittag gehört hatte. Sie befand sich in einem leicht euphorischen Zustand und wusste nicht recht, ob es an den Themen oder an Angerhaus lag.

Leseproben Unter Verdacht


Dienstag, 15. November 2016

Unter Verdacht Die Veröffentlichung naht


Aus Kapitel 4

Sonntagmorgen. „Knock-knock“: „Ich komme nach Düsseldorf. Peter“.
Ruth wunderte sich. Was will er in Düsseldorf? Er wird wohl einen Bericht darüber hören wollen, was ich in Sachen Nachforschungen getan habe. Mist.


Es war vier Uhr nachmittags und Ruth hatte sich gerade ihren Sonntagnachmittagskaffee zubereitet, als sich ihr Telefon meldete.
„Hallo Ruth, ich bin angekommen. Ich wohne in einem Hotel am Hofgarten. Können wir uns sehen?“
„Guten Tag, Peter. Natürlich können wir uns sehen. Willst du hierherkommen? Hier können wir in Ruhe reden.“
„Gern, liebe Ruth. Deine Adresse kenne ich ja, mein Navi weiß Bescheid.“ Gespräch beendet. Wann wollte der kommen? Sofort? Warum nicht. Ihre Eitelkeit ließ sie zum Kleiderschrank eilen und den Inhalt sichten. Ach, was. Ich bleib wie ich bin. Kurz darauf meldete die Rezeption den Besuch an.

Peter sah aus, wie sie ihn in Erinnerung hatte: helle Augen, kurze graue Haare. Anzug. Sie stellte fest, dass sie sich freute, ihn wiederzusehen.
„Komm rein und nimm Platz.“ Er wickelte eben noch die Blumen aus dem Papier, überreichte den kleinen Biedermeierstrauß und ging durch die Diele ins Wohnzimmer. Überrascht blieb er in der Nähe des Fensters stehen.
„Du hast aber einen fabelhaften Überblick.“ Ruth musste lachen und dachte: Schön wär’s, wenn ich den auch sonst hätte. Aber sie war stolz auf den Blick über die ganze Kölner Bucht und erklärte erst einmal alles. Die diversen kleinen Nachbarstädte von Düsseldorf, die Kirchtürme und die Schornsteine bekannter Firmen.  

Nach weiteren Vorbereitungen wie: Blumen ins Wasser, Kaffee kochen, das „gute“ Porzellan herausholen und Kaffee eingießen, nahm Ruth Peter gegenüber in ihrem Sessel Platz und wollte von ihm wissen, ob er eine gute Fahrt gehabt habe, gut untergebracht sei und wie es ihm ansonsten gehe.
„Schlecht.“ Das war die einzige Antwort auf ihre Fragen. Kein schöner Auftakt. Peter sah Ruth schweigend an, vorwurfsvoll schweigend. Und Ruth fühlte sich entsprechend unbehaglich. Ihre einzige Entschuldigung vor sich selbst: Sie hatte ihn nicht gebeten, hierherzukommen.
„Du hast sicher eine Liste der Teilnehmer an der Fahrt nach Weimar, die sollten wir gemeinsam durchgehen.“
„Natürlich habe ich die Namen und wir können sie durchgehen. Aber ich selbst habe natürlich in den letzten Wochen immer wieder überlegt, wer von den Leuten hier aus dem Haus Grund gehabt haben könnte, Gloria Molenbeck etwas anzutun.“
„Diese Gloria hatte eine schwere Lungenkrankheit, sie war leicht zu ersticken, da kommen aus Sicht der Polizei auch Frauen in Betracht – so wie die arme Annette. Was sagt denn Eveline dazu? Kommt sie gleich?“ Peter sah sich um, als müsse sie gleich zur Tür hereinkommen. Und Ruth sah ebenfalls zur Tür, nur um Peter nicht ansehen zu müssen.
„Sie ist nicht hier. Sie ist im Krankenhaus. Liegt im Koma. Ist gestürzt.“ Nun sah sie Peter doch ins Gesicht. „Irgendjemand muss Schuld haben an ihrem Sturz. Und …“
„Und?“
„Und ich denke, der oder die, die Gloria ermordet hat, wollte auch Eveline schaden. Sie muss eine Idee gehabt und jemand angesprochen haben und der oder die …“
„Also jemand aus eurer Gruppe. Meine Meinung. Hast du eine Ahnung, wer?“
„Sie hat im Krankenhaus kurz gesprochen: ‚Die verdammten Hexen‘ hat sie gemurmelt.“
„Wer sind die verdammten Hexen? Das muss etwas mit der Séance zu tun haben.“
„Henk, ihr geschiedener Mann, und ich haben gedacht, sie hätte die beiden Schwestern gemeint, die mitgereist waren.“ Ruth breitete ihre Vermutungen über die Schwestern und den Sohn aus. Und dass Henk, der Rechtsanwalt, dem nachgehen werde.
Peter taute langsam auf, als er sah, dass sich doch etwas tat.
„Lass uns diese Liste durchgehen. Das Zimmermädchen im Rosenhag hat nicht nur Annettes Stimme im Zimmer von Gloria gehört, da war später eine weitere Stimme, heiser, hätte auch ein Mann sein können. Aber das hat die Polizei nicht weiter interessiert – sie haben ja Annette.“
„Woher weiß man denn, dass es tatsächlich Annettes Stimme war?“
„Eine Art Stimmen-Gegenüberstellung. Annette musste etwas sagen, ebenso wie ein paar Polizistinnen. Das Zimmermädchen hat Annettes Stimme erkannt. Aber Annette leugnet ja nicht, dass sie bei dieser Gloria war.“
„Aber das will nicht unbedingt etwas heißen, vielleicht haben sie nur Erinnerungen ausgetauscht.“
„Ja, das hat ihr Anwalt natürlich auch eingewendet, aber die gemeinsame Vergangenheit …“
„Ich habe mir viele Gedanken gemacht, seit du mich gebeten hast, darüber nachzudenken. Die Schwestern – darum kümmert sich Henk. Das Ehepaar Overkamp hat zwar auch in Düsseldorf gewohnt, aber wo da eine Verbindung zu Gloria sein soll, keine Ahnung. Ich kann sie schlecht fragen. Dann Hilde Wintzig, von der ich sehr wenig weiß, und Friedhelm Angerhaus, ein Verehrer von Gloria Molenbeck.“
„Da war aber noch die Reiseleiterin.“
„Frau Ludwig? Da habe ich auch keinen Anhaltspunkt. Und ist es nicht eigentlich Aufgabe der Polizei, sich um die Aufklärung zu kümmern?“
Peter sprang auf und lief zur Tür, als wollte er gehen. Was ist los?
Dann kehrte er um und fasste Ruth, die ebenso aufgesprungen war, am Arm. „Du machst es dir leicht. Ist es denn zu viel verlangt, hier die Augen offen zu halten?“
„Aber Peter, was soll das, ich will dir ja helfen, nur wie?“
„Helfen, davon merke ich nichts. Keine Ahnung, keine Anhaltspunkte. Offensichtlich keine Fantasie!“
„Aber Peter, so kannst du nicht mit mir umgehen. Das verbitte ich mir. Überlass das der Polizei und lass mich zufrieden. Oder hast du etwa selbst etwas zu verbergen? Kanntest du Gloria nicht aus früheren Zeiten?“ Ruth war erbost über Peters Attacke, aber das hätte ich nicht sagen dürfen.
Peter hatte sie jetzt mit beiden Armen gepackt und starrte ihr wütend ins Gesicht. „Schämst du dich nicht, du willst deine Ruhe haben, alles ist dir recht, um mich abzuwimmeln. Üble Verdächtigungen, mit uns Ossis kannst du so umgehen, haben ja alle Dreck am Stecken. Fehlt nur noch, dass du die Stasi ins Spiel bringst. Pfui, Teufel.“

Ruths Adrenalinspiegel war so hoch wie lange nicht, ein Gefühl im Rücken, als schwappte da tatsächlich etwas hin und her. Wütend war Peter verschwunden, hatte ihre Korridortür zugeschlagen. Wieso war der überhaupt ins Rheinland gekommen? Was hatte er am Telefon kurz erwähnt? Sein Verein hatte eine Tagung. Wenn der sich nicht entschuldigt, dann lege ich das zu den Akten.
Aber der Stachel: Eveline war attackiert worden, irgendwie. Hier im Haus. Übrigens, ein Name war gar nicht gefallen: Gudrun Kolb. Die hatte der doch auch kennengelernt bei der Séance. Aber mich angreifen. Keine Fantasie! Vielleicht hatte er tatsächlich selbst etwas zu befürchten und war deshalb so scharf auf eine Entlastung. Er hatte zudem die Stasi erwähnt.
Ruth stopfte sich das letzte Stück Schokolade in den Mund, das brauchte sie jetzt. Und die frische Luft auf dem Balkon. Und den Anblick ihres Lieblingshimmels: blau mit weißen Wolken. Schön. Beruhigend. Den wünschte sie sich auch fürs ewige Leben.

Montag, 14. November 2016

Unter Verdacht:Es geht weiter mit den Leseproben

Aus Kapitel 4

„Kommen Sie doch an meinen Tisch, Frau Bergmann. Wir sollten mal wieder eine Tasse Kaffee zusammen trinken.“
Ruth war heruntergekommen, um noch einmal ein Eis zu essen und nahm das Angebot von Gudrun Kolb dankend an. Es war wie immer an Samstagen sehr belebt hier unten. Verwandte machten Besuche, gern oder weniger gern – man konnte es an ihren Gesichtern und der Sitzhaltung ablesen. Immer noch war es Sommer draußen vor den großen Fenstern der Cafeteria, ein leichter Blumenduft zog durch ein Oberlicht herein. Ruth blickte heute leider nicht aus dem Fenster, sondern auf die Wand, an der die kleine Bar eingerichtet war. Durch die Tür daneben gingen die Serviererinnen ein und aus und ließen sich an der Kuchentheke rechts davon die Tortenteller für ihre Bestellungen fertigmachen.
„Ich möchte meine Einladung, in unseren Kreis zu kommen, gern wiederholen. Es ist immer interessant, auch wenn wir nur ganz selten einmal eine Séance abhalten. Mit dem Gedanken daran habe ich Sie leider abgeschreckt. Aber wir haben auch andere Themen.“ Frau Kolb lächelte und blickte in den Garten hinaus. „Sie wissen sicher, dass die Magie die älteste Form der Religion der Menschen ist.“ Oh nein.
„Mit Magie habe ich mich noch nie befasst, außer dass ich ab und zu an Holz klopfe, wenn ich etwas verhindern will.“

Gudrun Kolb lachte jetzt laut und sagte: „Den Zusammenhang kennen Sie also.“ Ihre braunen Augen blitzten, sie war bei ihrem Lieblingsthema, das war deutlich. „Ich bin zu diesen Themen gekommen nach einem schweren Schicksalsschlag, der mich völlig aus meinen Lebenszusammenhängen gerissen hat. Ich saß enttäuscht da und suchte nach etwas Sinnvollem, mit dem ich mich beschäftigen könnte. Damals begann die Zeit, in der alle Welt von Esoterik zu sprechen anfing, als man überall Seminare dazu veranstaltete.“
Ruth war diesen Versuchungen nie erlegen, dazu war sie zu nüchtern und zu skeptisch. Gudrun fuhr fort: „Wir beschäftigen uns zurzeit mit Themen der Vorgeschichte, einer Zeit, in der es noch keine Götter gab, sondern magische Kräfte für alles verantwortlich gemacht wurden. Erfreulicherweise haben wir das Internet zur Verfügung. Sowohl Bilder als auch Texte.“
Das Loblied auf das Internet erfreute Ruth natürlich und sie ergriff die Gelegenheit, erst einmal vom Thema Magie wegzukommen.
„Da haben Sie Recht, ich suche meine Informationen auch im Netz. Ich beschäftige mich gerade mit dem Thema SED.“
„SED?“
„Ja, Sozialistische Einheitspartei Deutschlands. Bitte wundern Sie sich nicht, ich versuche herauszufinden, was unsere Weimarer Bekannten mit Frau Molenbeck verbunden haben könnte. Die Verdächtige in Weimar ist eine Jugendfreundin von Molenbeck.“
„Warum wollen Sie das denn wissen? Der Fall ist doch klar, diese Jugendfreundin …“
„… war vielleicht gar nicht die Täterin.“
„Ach, meinen Sie? Von ihrer Vergangenheit in Weimar hat Gloria nicht viel erzählt.“ Gudrun Kolb lehnte sich nach vorn, sah Ruth an und fuhr fort: „Schade, dass Sie sich nicht für meine Themen interessieren. Ich bin noch ganz begeistert von meinem Besuch im Museum für Ur- und Frühgeschichte in Weimar. Was ich da alles gesehen habe. Das ist ein Fundus aus frühen Sammlerbeständen, dann aus Ausgrabungen in der Zeit der DDR und auch aus den letzten fünfundzwanzig Jahren. Mitteldeutschland hat so vieles an alten Stätten zu bieten.“ Gudrun Kolb hatte ganz strahlende Augen bekommen, so sehr war sie in ihrem Element. „Gerade das Weimarer Land ist reich daran: Jungsteinzeit, Bronze- und Eisenzeit – ich gerate ins Schwärmen. Ich habe mir genug Unterlagen mitgebracht, über die wir auch schon gesprochen haben.“

Ruth fand das sehr sympathisch, konnte aber nicht mitschwärmen.
„Bei mir beginnt die Geschichte bei den alten Römern, das ist etwas Handfestes. Meine Freundin Eveline und ich waren natürlich in Weimar unterwegs, allerdings mehr auf den Spuren von Goethe. Sehr beeindruckt hat uns das Schlösschen Tiefurt. Diese schöne Einfachheit. Und dabei war es ein Fürstenhof.“
„Wie geht es denn Ihrer Freundin? Ich habe gehört, dass sie gestürzt ist. Das kommt ja leider sehr häufig vor hier im Haus – unser Alter eben. Was sagt sie denn, wie es passiert ist?“ Gudrun Kolb schien ehrlich interessiert, aber Ruth hatte Hemmungen, vor ihr das Wort „Hexen“ zu äußern. Zum Thema Weimarer Vergangenheit konnte sie jedoch nicht zurückfinden. Also jetzt zu ihrer Freundin Eveline.
„Wir wissen es nicht, sie wurde ins Koma gelegt, vorsichtshalber.“
„Ach“, war Gudrun Kolbs kurze Antwort. Sie schien erleichtert, vielleicht wollte sie nichts Negatives hören. Denn das prasselte ohnehin von allen Seiten auf die Bewohner des Hauses am Kirchberg nieder, dachte Ruth. Draußen war die Welt aus den Fugen geraten. Die Fernsehnachrichten brachten vielen Bewohnern Erinnerungen aus der Jugendzeit zurück: Flugzeuge, Bomben, Trümmer. Und denen, die aus dem Osten stammten: Flüchtlingszüge.


Montag, 31. Oktober 2016

Erst einmal Pause

Weil mein Krimi MORD am KIRCHBERG II VERDACHT  nicht plangemäß Mitte November erscheinen kann, gibt es erst einmal keine Leseproben mehr. Allzu viel soll ja nicht verraten werden.  Als Autor ist man leider von anderen abhängig. Es tut mir leid.
Dafür auch an dieser Stelle die Cover meiner inzwischen drei Titel.

Freitag, 14. Oktober 2016

Unter Verdacht Auszug aus Kapitel 3



„Eveline ist verschwunden.“ Henk, der geschiedene Ehemann ihrer Freundin, stand vor Ruths Tür. Sein heftiges Klingeln hatte sie aufgescheucht. Verschwunden? Schon klopfte ihr Herz bis in den Kopf.
„Komm erst mal rein, was ist denn? Warst du in ihrer Wohnung?“
„Ja, natürlich, ich wollte sie abholen, sie öffnete nicht. Ich hab aber ihren Schlüssel, für alle Fälle.“
„Ich habe sie heute Mittag auch nicht gesehen, ich dachte, ihr wäret über Mittag verabredet gewesen. Ich hab keine Ahnung, wo sie sein könnte.“
„Sie geht doch manchmal spazieren, draußen im Park. Könnten wir da mal nach ihr suchen?“ Henk war eindeutig aufgeregt. Hatte ihm Eveline etwas erzählt, was ihm einen Anlass dazu gab?
„Aber sicher, ich zieh mir eben etwas anderes an.“ Ruth hatte es sich zuvor gemütlich gemacht und stand in einem tomatenroten Hausanzug vor ihm.

Sie wollten gerade durch die Hintertür hinaus in den Park, als Ruth einfiel: „Lass uns vorher in der Pflegeabteilung nachfragen. Vielleicht ging es ihr nicht gut, möglicherweise wollte sie sich dort etwas holen  und man hat sie dabehalten.“
„Möglich. Komm.“
Die Idee lag auf der Hand, aber Eveline war nicht dort. Sie mussten nach einer Schwester suchen, es war Wochenendbetrieb und nicht viel los.
„Nein, leider, Frau van Osten ist nicht hier, war auch heute nicht hier“, sagte Schwester Jana. „Ging es ihr nicht gut?“ Sie kannte Eveline offensichtlich, hatte sie hier schon einmal Rat gesucht?

Der Baumbestand im Park war sehr licht. Jeder, der wollte, kam hier hinein und so war es wichtig, dass sich niemand verbergen konnte. Nichts zu sehen. Im hinteren Bereich war ein kleines Törchen in der umlaufenden Hecke, durch das man auf das dahinterliegende offene Feld gelangen konnte, so waren auch längere Spaziergänge möglich.
Und da lag sie. Im Gras. Henk stürzte hin.
„Was ist, was hast du? Hat dir einer was getan? Ruth, komm, hilf mir.“
Eine Blutlache unter ihrem Kopf. Sie war bewusstlos. Ein Überfall? Beide knieten neben Eveline. Wie schmal sie war, die Arme.
„Der Notruf, ich ruf den Notarzt.“ Ruth sprang auf.
„Ja, mach schnell. Sie ist gestürzt, mit dem Kopf auf den Stein. Der verdammte Alkohol.“ Henk kniete neben Eveline, schüttelte sie ein wenig. Da war nichts zu machen, sie blieb bewusstlos - auch als der Notarzt sich um sie bemühte.

„, Die verdammten Hexen‘, das waren Evelines Worte. Kannst du damit etwas anfangen?“ Henk war vom Krankenhaus gleich zu Ruth gekommen, er war im Krankenwagen mitgefahren.
Jetzt sah Ruth klar: Das war es – sie waren es – die Hexen, das waren diese Schwestern. Sie hatten Eveline etwas angetan, was nicht wiedergutzumachen war. Und warum? Eveline hatte gestern Abend noch etwas Neues herausgefunden. Ganz sicher. Sie hatte ihr nichts davon verraten, weil sie sich zuvor gestritten hatten. Über Wunderlich … Wie hatten die Schwestern Eveline dazu gebracht, wieder zu trinken? Was war vorgefallen? Ruth versuchte vergeblich, sich vorzustellen, wie die Zusammenkunft von Eveline und den Schwestern abgelaufen sein könnte. Es war schlimmer als je zuvor. Eveline hatte einen Rückfall, dazu der schwere Sturz.
Henk hatte sie ihren Gedanken überlassen. Jetzt nahm er sie in den Arm und sprach ihr Mut zu. „Nimm es dir nicht so zu Herzen, sie wird sich wieder erholen und wieder die Alte sein.“
Ruth atmete tief ein und stieß einen Seufzer aus, sie wollte Henk so gerne glauben.
„Hat sie dir gestern Abend noch etwas gesagt? Hat sie im Haus mit jemandem gesprochen?“, fragte Henk.
„Keine Ahnung, mir hat sie jedenfalls nichts gesagt.“
Henk seufzte und umklammerte die kleine Tasche, die Eveline bei sich gehabt hatte. „Sie werden das Gehirn entlasten müssen. Sie haben mir alles erklärt, aber ich habe es nicht ganz verstanden. Jedenfalls werden sie sie in ein künstliches Koma legen müssen. Ich komme bald wieder, dann unterhalten wir uns über die Lage.“
„Aber müssten wir denn nicht die Polizei einschalten? Vielleicht ist Eveline nicht gestürzt, sondern gestoßen worden.“ Oder erschlagen worden.
„Das wäre nur eine vage Vermutung. Vernehmen könnte man sie im Augenblick sowieso nicht. Wahrscheinlich hatte sie getrunken – wir wollen doch nicht, dass das aktenkundig wird.“ Nein, das wollte auch Ruth nicht.

Es war unmöglich, jetzt ins Bett zu gehen, Ruth musste nachdenken. Sie musste etwas tun: Da saß eine unschuldige Frau seit zwei Wochen im Gefängnis und hier hatten zwei schuldige Frauen ihre arme Eveline ins Unglück gestürzt. Wie mag das passiert sein? Und, und dann war da ihr schlechtes Gewissen, dass sie Streit angefangen hatte mit Eveline. Es hatte ihr gar nicht gefallen, dass Eveline und Wunderlich – so gut miteinander auskamen. So waren ihre letzten Worte miteinander böse Worte gewesen.

Ruth musste unbedingt zu der Stelle zurückkehren, an der sie Eveline gefunden hatten. Es war längst dunkel. Im Schein ihrer Taschenlampe sah Ruth auf und neben dem Stein Blutspuren. Das war ein recht kleiner Stein, dazu noch der einzige an dieser Stelle, wieso musste sie ausgerechnet auf den stürzen? Was lag da drüben? Ein abgebrochener Absatz. War er von Evelines Schuh? Sie nahm ihn mit.


Samstag, 24. September 2016

Unter Verdacht Kapitel 1


Kapitel 1

Donnergrollen und fernes Wetterleuchten. Der Nachtwind bewegte die Spitzengardinen und ließ die Kerzen flackern. Es war die ideale Kulisse für ein solches Ereignis.
Ruth saß aufgerichtet in ihrem Polsterstuhl. An ihrem Rücken spürte sie die Schnitzereien der Stuhllehne. Sie störten sie, aber sie brauchte den festen Halt. Denn sie hatte das Gefühl, nicht hierherzugehören.
„Frau Bergmann, Sie sehen so skeptisch aus“, sagte Gilda, die zu dieser Séance eingeladen hatte.
„Skeptisch? Vielleicht. Eher angespannt. Das ist kein Wunder, ich sitze als Neuling hier.“
„Entspannen Sie sich, es wird Ihnen nichts geschehen.“ Gilda lächelte. Ruth fand sie sympathisch. Die anderen: fünf ältere Damen, ein ebenso alter Herr. Alle seriös gekleidet. Was mögen sie erwarten? Über dem runden Tisch hing eine Lampe von modernem Design, deren Licht gedimmt war. Ein Gegensatz zu den antiken Möbeln ringsum. Die Bilder an den Wänden waren nur schemenhaft zu erkennen.

So sah also ein Ouijabrett aus: unter einer Glasplatte ein helles Blatt Papier, an dessen Rand das Alphabet aufgezeichnet war. In einem kleineren Kreis die Zahlen von 0 bis 9 und in der Mitte in einem Dreieck die Worte JA, NEIN und ENDE. Daneben ein umgedrehtes Wasserglas. Sein Boden sollte Platz für die Finger der Teilnehmer bieten. Darüber wusste Ruth Bescheid.

„Ich denke, wir haben uns auch geistig hier eingefunden, wir können beginnen. Ich übernehme die Führung, werde euch mit dem Vornamen anreden. Liselotte wird sich nicht beteiligen, sie notiert Fragen und Antworten.“ Jetzt wird es ernst, dachte Ruth. Es war still, im Raum und auch in der Natur; wo war das Gewitter geblieben?

Peter Anselm – ein Nachbar, so war er vorgestellt worden – legte als Erster seinen rechten Zeigefinger auf den Glasboden. Seine hellen Augen blickten aufmerksam in die Runde. Annette Zabel war die Nächste, auch sie eine Nachbarin. Ihre dunklen Augen hatten eher einen verträumten Blick. Ihr folgte die erste Teilnehmerin aus Ruths Reisegruppe, Gloria Molenbeck. Ihr fielen die langen Haare ins Gesicht, so dass man ihren Augenausdruck nicht sehen konnte. Jetzt fasste Ruth sich ein Herz und legte ihren Finger auf das Glas. Zuletzt Gudrun Kolb. Nein, zuletzt Gilda, die Hausherrin. Ihre Augen wirkten fast so schwarz wie ihre langen Haare, als sie jeden Einzelnen ansah.

„Ich lade dich ein, in unsere Runde zu kommen“, begann Gilda. Ihre Stimme klang dunkler als zuvor. „Vater, bist du es? Bist du es wieder?“
Mit einem Ruck gelangte das Glas auf das JA.
„Sei herzlich willkommen. Wir beginnen. Du wirst einen anderen Gast begleiten. Wer von uns hat eine Frage?“ Wieder blickte Gilda in die Runde. Sie stockte bei Gloria, die zu ihr hinübersah und jetzt leise fragte: „Eberhard …? Ich habe eben an dich gedacht.“
Das Glas befand sich weiter auf dem JA, aber es stand nicht still, es bewegte sich ein wenig.
„Das heißt JA. Frag bitte weiter, Gloria.“
„Möchtest du mir etwas sagen, Eberhard?“
Das Glas setzte sich zögernd in Bewegung, alle schienen den Atem anzuhalten. Es begann mit einem V, dann ein E, ein R, ein Z. Das Glas huschte jetzt über die Platte. Ruth ergänzte in Gedanken: Verzeihung. Und so kam es, am Ende war es dieses Wort. Liselotte notierte es. Gloria atmete schwer. Sie starrte auf das Glas. „Warum? Warum?“, wisperte sie.
Neben Ruth saß Gudrun, Gudrun Kolb. Sie zitterte, als ob die Botschaft an sie gerichtet wäre. Leise flüsterte sie: „Ja, ja.“ Auch Ruth begann zu zittern, es war plötzlich kühl geworden. Was war los? Was hatte sich hier abgespielt?
Gilda sprach wieder: „Möchte jemand von euch etwas fragen?“
Dazu kam es nicht, denn Gloria begann plötzlich zu röcheln, sie griff sich an die Kehle, als würde ihr das beim Luftholen helfen. Alle sprangen auf, wollten ihr beistehen. Aber Gloria winkte ab. „Lasst nur, lasst nur, das geht vorbei. Ich bin selbst Ärztin, ich weiß mir zu helfen.“
Gilda, die sich für die Runde verantwortlich fühlte, sagte: „Bleibt ruhig, bitte. Wir müssen es beenden, der Kreis darf nicht offen bleiben. Kommt zurück.“ Alle setzten sich und legten wieder ihre Finger auf das Glas; Gilda murmelte ein paar Worte, die Ruth nicht verstand, und das Glas ruckelte zum ENDE.

Schon vor zwei Tagen war Ruths Reisegruppe in Weimar angekommen und hatte sich in der Pension Rosenhag etabliert. Zehn Mitbewohner aus dem Haus am Kirchberg, die ein paar Tage Weimar genießen wollten. Ruth wohnte seit fast einem Jahr in dieser Senioren-Wohnanlage.
Langsam stieg Ruth die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf. Was sich da eben abgespielt hatte, musste sie erst einmal überdenken. Sie hatte nie für möglich gehalten, dass sich tatsächlich so etwas wie ein Geistwesen melden würde, noch dazu sozusagen auf Anfrage. Auf der letzten Stufe stolperte sie und wäre beinahe hingefallen. Die Aufregung.
Gloria Molenbeck hatte die Runde als Erste verlassen. Das Wort ihres Mannes, sicher war es ihr Mann gewesen, hatte sie erschüttert. Auch Gudrun Kolb hatte gezittert. War das Empathie oder hat sie ähnliche Erinnerungen?

Ruth schloss die Tür auf, warf ihre Tasche aufs Bett und zog die Schuhe aus. Sie öffnete das Fenster; die Blätter der Linde dicht am Haus raschelten in der frischen Nachtluft. Als Nächstes machte sie die Stehlampe an, denn das Deckenlicht genügte ihr nicht. Schatten in den Ecken – heute bitte nicht. Eine Flasche Mineralwasser und ein Glas standen auf dem kleinen runden Tisch und sie bediente sich. Endlich setzte sie sich in den Sessel, der vorm Fenster stand.
Diese Frau Molenbeck hatte einen recht pompösen Vornamen: Gloria. Aber so glorios ging es ihr nicht, sie schien schwer krank zu sein; die Gefahr, dass sie irgendwann ersticken würde, schien groß.
Das alles musste Ruth unbedingt mit Eveline, ihrer Freundin, besprechen. Sie machte sich auf den Weg zu ihr, obwohl es schon spät war. Als sie an Glorias Tür vorbeikam, hörte sie, dass eine Besucherin mit ihr sprach.
„Sie wissen doch ganz genau, dass die Anteile mir gehören.“ Glorias Antwort bekam sie schon nicht mehr mit. Eveline öffnete nicht, sie schlief wohl schon. Was mochte es mit den „Anteilen“ auf sich haben?


„Guten Morgen und guten Appetit, liebe Eveline.“ Ruth legte ihrer Freundin die Hand auf die Schulter und ließ sich auf dem Stuhl ihr gegenüber nieder. Das Frühstückszimmer im Haus Rosenhag war gut besucht.
„Wie war’s denn gestern Abend, erzähl mal.“ Eveline war wie immer wissbegierig, ihre dunklen Haare standen wie Stacheln von ihrem Kopf ab, ihre kleinen Hände versuchten vergeblich, sie zu bändigen.
„Interessant“, war das Einzige, was Ruth von sich gab. Sie hatte ihre Gedanken zum gestrigen Abend noch immer nicht geordnet. Um Eveline abzulenken, fragte sie: „Hast du eigentlich einen neuen Friseur? Deine Haare wirken sehr flott.“ Eveline ging auf die Frisurenfrage ein und schoss einen Pfeil ab. „Du könntest auch etwas mit deinen Haaren unternehmen, grau und kurz, das ist langweilig. Und deine Antwort ist nicht gerade aufschlussreich.“ Eveline biss ins Brötchen und tat beleidigt.
„Später mehr, liebe Eveline.“ Der Gang zum Frühstücksbüffet verschaffte ihr einen Aufschub, erst das Kännchen Tee, beim nächsten Mal Brot, Butter und Marmelade.
„Ich kann das immer noch nicht einordnen, ich habe so etwas nie vorher erlebt. Da war tatsächlich jemand.“
„Ein Mann, eine Frau?“
„Ein Mann, wohl der verstorbene Ehemann.“
„Und – was hat er gesagt?“
„Nichts Bedeutungsvolles, falls du das erwartest, keine Worte von Ewigkeitswert. Er bat um Verzeihung.“

Am Nebentisch sprach Gilda Wessel mit Frau Ludwig, der Reiseleiterin, die plötzlich aufsprang. Beide verließen daraufhin das Frühstückszimmer.
„Was ist los? Fehlt wer?“ Eveline reckte ihr Stachelköpfchen, als wittere sie eine Sensation. Auch Ruth sah hinter den beiden her, lachte und meinte: „Du ahnst schon wieder Unheil, oder?“
Nach kurzer Zeit kam Frau Ludwig zurück, sie schien bewegt und aufgeregt zu sein.
„Ich muss Ihnen eine traurige Nachricht überbringen, Frau Molenbeck ist in der Nacht gestorben. Wohl eine Folge ihrer Krankheit. Wie ich gehört habe, hatte sie schon gestern Abend erhebliche Schwierigkeiten mit der Atmung. Ich werde mich jetzt um die Formalitäten kümmern müssen und bitte um Entschuldigung, dass ich nicht für Sie da sein kann.“
Das Unheil war da. Es gab eine Tote, Gloria Molenbeck, eine ihrer Nachbarinnen aus dem Haus am Kirchberg. Eveline hatte ihr Brötchen zurückgelegt, auch Ruth hatte jeden Appetit verloren. Die arme Frau.
Sie hatten sie nicht wirklich gekannt, hatten sie oft in der Halle des Hauses sitzen sehen, allein oder mit anderen Damen, die sich dort die Zeit mit Plaudern vertrieben. Frau Molenbeck war die mit der eleganten, aber etwas schlampigen Kleidung – Originalton Eveline. Was hatte ihr wohl gestern Abend den Atem verschlagen?
„Lass uns ins Freie gehen. Wir wollten doch heute noch einmal zu Goethes Gartenhaus.“ Ruth nahm Eveline am Arm und sie verließen das Frühstückszimmer. Die Sonne schien, das Gewitter war vergessen.

Am Fuß der Außentreppe stand Peter, der Nachbar und Teilnehmer an der abendlichen Runde am Tag zuvor. Er bot den beiden an, sie zu begleiten, wohin auch immer. Er wollte wohl über den gestrigen Abend sprechen und über das, was später geschehen war.
„Ich habe gestern zum ersten Mal an einer solchen Sitzung teilgenommen. Gilda hatte mich immer mal eingeladen, aber ich hatte keine Lust oder ich hatte Befürchtungen, ich weiß nicht recht, weshalb. Und dass die Sitzung solche Folgen hatte …“
„Ja, traurig, Gloria war wohl so mitgenommen von der Erscheinung und von ihrem Anfall, dass sie die Nacht nicht überlebt hat. Wahrscheinlich ein weiterer Anfall, den sie nicht in den Griff bekommen hat. Sie war aus unserer Gruppe und wir sind alle sehr betroffen von der Nachricht. Jetzt wollen wir los, in Richtung Goethes Gartenhaus.“
„Einverstanden“, sagte Peter und stellte sich erst einmal Eveline vor: „Peter Anselm, ein Nachbar dieser entzückenden Pension.“
„Ja, ein schönes altes Haus, richtig verwunschen, die vielen Rosen und Kletterpflanzen, der Name Rosenhag ist so passend. Innen sehr geschmackvoll eingerichtet, die Zimmer und die übrigen Räume.“ Eveline schwärmte.
„Wir haben uns gestern Abend geduzt und obwohl wir uns fremd sind, meine ich, dass wir das auch weiter tun könnten“, sagte Ruth zu Peter gewandt.
„Ich habe gar nicht gewagt, danach zu fragen, aber ich finde es schön, dass du es sagst.“ Peter ergriff Ruths Hand und platzierte einen gekonnten Handkuss, woraufhin Ruth ein wenig verlegen wurde. Eveline schien das zu amüsieren.
„Und was ist mit mir?“, fragte sie mit ihrem charmantesten Lächeln. Was sollte sein? Fröhlich und sich duzend bewegte sich die kleine Gruppe durch den Park zum Gartenhaus. Ruth fühlte sich immer ein wenig unelegant neben der zierlichen Eveline, ihr Körperbau war etwas kompakter. Aber sie war ja auch ein paar Zentimeter größer. Das Bild von Peter hatte sich komplettiert: Was sie gestern für blond gehalten hatte, war schnödes Grau, die hellen Augen waren blau.

Zurück in der Pension, erwartete sie ein Tohuwabohu: In der Eingangshalle standen neben Gilda und Frau Ludwig zwei Männer, der eine war Dr. Freiling, wie sich herausstellte. Alle debattierten heftig.
Der Fremde rückte näher an den Arzt heran. „Gloria hat mich in der letzten Nacht angerufen. Sie fühlte sich bedroht. Das habe ich Ihnen nun doch schon drei Mal gesagt. Jemand hatte sie in ihrem Zimmer aufgesucht, hatte eine Auseinandersetzung mit ihr. Ist später zurückgekommen und … sie ist nicht einfach so gestorben. Man hat ihr etwas angetan. Das muss untersucht werden. Das können Sie nicht verschleiern.“
Gilda Wessel als Inhaberin der Pension Rosenhag versuchte, den Mann zu beruhigen. „Hier wird nichts verschleiert. Sie muss einen Anfall gehabt haben, ihr Herz hat versagt. Sie als ihr Freund müssen doch gewusst haben, wie krank sie war. Frau Ludwig hat alle Krankenunterlagen der Leute aus dem Kirchberg dabei. So hatte Doktor Freiling einen Anhaltspunkt für seinen Totenschein.“

Auch der Arzt schien außer sich zu sein. „Ich verbitte mir Ihre Unterstellungen. Aber wenn Sie meinen, dass etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen ist, dann rufen Sie doch die Polizei. Ich habe mir nichts vorzuwerfen.“

Ruth war neben der Haustür stehengeblieben, Eveline dicht hinter ihr und daneben der Nachbar Peter. Eveline wisperte nur ein Wort: „Mord.“
Der Fremde, offenbar ein Freund der Toten, wandte sich an Frau Ludwig, die für die Gruppe aus dem Rheinland verantwortlich war. „Wo ist Gloria denn jetzt? Wo ist ihre Leiche? Ich will sie sehen.“
Die Antwort kam von Gilda: „Frau Molenbeck wurde vom Beerdigungsinstitut abgeholt, die Angehörigen müssen entscheiden, wie es weitergeht. Frau Ludwig kümmert sich darum.“
„Und dann ist die Leiche verschwunden und es bleibt ungeklärt, was geschehen ist. Ich will sie sehen.“
Gilda übergab die Adresse des Instituts und der Freund verließ die Pension.

Schweigen breitete sich aus, man sah einander an, wusste nicht, was man sagen sollte. Dass eine Teilnehmerin an der Weimar-Fahrt gestorben war, war schon schlimm genug. Dass unterstellt wurde … – ja, was denn eigentlich? Ruth fühlte sich unsicher. Sie war bei der gestrigen Veranstaltung dabei gewesen, ebenso Gilda Wessel, sie hatten den schlimmen Anfall miterlebt. Sollte jemand die Gelegenheit ergriffen haben …?

Ruth reichte Peter die Hand und meinte: „Wir sehen uns sicher noch, für uns hier steht gleich das Mittagessen auf dem Tisch.“
Sie wollte vorher erst einmal allein sein, ohne Eveline darüber nachdenken, was denn wohl geschehen sein könnte. Sie hatte gestern Abend Gloria in ihrem Zimmer reden gehört. Mit wem? Hatte der Arzt eben etwas darüber gesagt, wie er sie aufgefunden hatte? Sie waren erst dazugekommen, als die Debatte schon heftig in Gang war. Vielleicht durfte er sich dazu gar nicht äußern. Vielleicht wollte er Gilda auch Unannehmlichkeiten ersparen. Über den Anfall vom Vorabend hatte man ihn unterrichtet, ob aber über den Anlass der Zusammenkunft? Eine unschöne Situation war es auf jeden Fall für den Rosenhag.

Am Nachmittag lag Spannung über der Pension, alle Gäste schienen etwas zu erwarten. Zurzeit war nur die Gruppe aus dem Haus am Kirchberg zu Gast. In der Ferne braute sich schon wieder ein Gewitter zusammen.
Frau Ludwig hatte am Vormittag wahrscheinlich mit der Geschäftsführung des Hauses am Kirchberg geklärt, welche Angehörigen oder sonstige Kontakte sich um die Rückführung der Leiche kümmern würden. Wer würde hier auftauchen und Fragen stellen? Wer von den Kirchbergern hatte Gloria Molenbeck näher gekannt? Man saß im Frühstücksraum zusammen. Anscheinend wollte niemand allein sein. Oder war es die Neugier?
Die beiden „Schwestern“ wurden eifrig kontaktiert. „Schwestern“ war die Bezeichnung für zwei Frauen – die Schwestern waren. Man nannte sie so, weil man zu faul war, ihre beiden Namen jeweils anzugeben, wenn man von ihnen sprach. Da war Schwester Nummer eins, die ältere, Erika Rheinberg, und Schwester Nummer zwei, Luise Burger, mindestens zehn Jahre jünger. Sie waren sehr beliebt im Haus, ebenso in der Familie, denn sie erhielten oft Besuch von Verwandten. Sie hatten eine Kartenrunde mit Gloria gehabt, Canasta. Sie wussten nicht viel über deren Verwandte, sie sei geschieden gewesen, auch Witwe, da käme wohl niemand hierher nach Weimar. Ruth und Eveline saßen mittendrin und schwiegen. Auch die anderen verstummten mit der Zeit.

„Guten Tag, meine Damen, meine Herren. Mein Name ist Sassendorf, Hauptkommissar Sassendorf.“ Ein energisch aussehender Mann betrat neben Gilda Wessel den Raum; hinter den beiden ein jüngerer Beamter, Oberkommissar Kampwitz, so wurde er vorgestellt. Sie stellten Fragen, notierten Namen, erfragten die Verbindungen zu Gloria Molenbeck. Niemand wusste etwas. Aber auch die Kommissare waren nicht gesprächig, lediglich, dass Frau Molenbeck keines natürlichen Todes gestorben war, gaben sie bekannt. Das bedeutete, dass alle Teilnehmer der Fahrt aus Düsseldorf sich dazu äußern mussten, wo sie in der Nacht, etwa gegen … Uhr, waren. Ruth und Eveline sahen sich an: Das war nach ihrem Geschmack. Jetzt galt es zu kombinieren: ein Unfall oder doch ein Mord?

Mitten in den Auftritt der Kommissare platzte Rechtsanwalt Beck aus Düsseldorf, der Bevollmächtigte von Gloria Molenbeck.
„Na, dann sind wir ja komplett“, sagte Hauptkommissar Sassendorf. Gilda führte ihn und den Anwalt ins Nebenzimmer und Sassendorf setzte ihn ins Bild. Leider waren nur Bruchstücke ihres Gespräches zu verstehen. Man hatte Frau Molenbeck wohl im Sessel sitzend aufgefunden.

„Unser Fazit: Niemand von Ihnen kannte Frau Molenbeck näher, alle fanden sie reizend, Feinde hatte sie keine – aber nun ist sie tot. Ermordet.“ Sassendorf hatte es wohl gern dramatisch, ob korrekt oder nicht, war hier gleichgültig. Jetzt war es ausgesprochen. Und das ließ alle Anwesenden erstarren. Während der Abwesenheit des Kommissars hatten alle stumm dagesessen. Auch Kampwitz hatte geschwiegen.
„Ehe Sie uns verdächtigen, fragen Sie vielleicht mal die Weimarer Freunde von Frau Molenbeck, sie stammte von hier. Und fragen Sie die Herrschaften, die an der Geisterstunde teilgenommen haben.“ Der Mitreisende Wilfried Overkamp schien erbost darüber zu sein, dass man ihnen unterstellte, nicht die Wahrheit gesagt, gar gemordet zu haben.
„Danke, Herr Overkamp, darauf wären wir nicht gekommen.“ Sassendorf verbeugte sich, winkte Kampwitz zu und sie entschwanden.

Nun starrten alle Ruth an – sie war schließlich an der Zusammenkunft beteiligt gewesen. Das Worte Séance wollte niemandem über die Lippen kommen.
„Frau Molenbeck ging es gestern Abend nicht gut, sie hatte eine Art Erstickungsanfall, ich habe gedacht, das hätte sich in der Nacht wiederholt und dann zu ihrem Tod geführt“, sagte Ruth.
„Sind Sie aber naiv, so einfach stirbt es sich nicht, da hat jemand nachgeholfen. Das haben wir ja eben gehört. Kissen liegen genug herum in den Zimmern.“  Das war der Beginn wildester Spekulationen, Ruth saß mittendrin und wünschte sich weit weg.


„Habt ihr gehört, dass man auch Annette, Liselotte und mich vernommen hat? Wir waren schließlich bei der Séance dabei. Alibis haben wir nicht, woher auch, wir leben alle allein.“ Peter stand wieder vor der Treppe zum Rosenhag. Ruth fand, dass er ein gutaussehender Mann war, wie er da kerzengrade in der Morgensonne stand.
„Wir haben nichts weiter von der Polizei gehört, seitdem sie hier abgerauscht sind. Aber es ist ja noch früh am Tag.“
„Ich fürchte, Annette könnte in Verdacht geraten. Sie ist damals im Zusammenhang mit der Republikflucht von Gloria verhaftet worden. Das hatte dann ein Berufsverbot zur Folge. Annette ging es lange Zeit sehr schlecht.“
„Und sie haben sich erst jetzt hier wiedergesehen?“
„Ich denke, ja. Annette hatte mir mal ihre Geschichte erzählt, sie war 1990 rehabilitiert worden und konnte hier im Krankenhaus arbeiten.“
„Ein Motiv wäre das. Aber hat sie Gloria überhaupt erkannt? Man hat ihr nichts angemerkt.“
„Doch, sie glaubt, dass es sich um ihre ehemalige Freundin handelte, sie hieß damals allerdings nicht Gloria, sondern Anna. War von ihrem Mann, einem Jugendfreund, geschieden. Wir haben heute Morgen miteinander telefoniert. Ich glaube nicht, dass sie ihr was angetan hat. Wie sieht es aus, unternehmen wir etwas?“
Die kleine Gruppe nahm wieder Kurs auf den Park. Das Wetter war zu schön, um im Haus zu bleiben, und die Polizei hatte offensichtlich nichts dagegen, dass man herumspazierte. Die Beamten waren nicht wieder erschienen.
„Wenn ich Polizist wäre, würde ich die gemeinsame Vergangenheit für ein großartiges Motiv halten. Aber vielleicht wissen sie nichts von der alten Geschichte.“ Ruth murmelte vor sich hin. Ob Annette im Zimmer von Gloria gewesen war, davon hatte Peter nichts gesagt.

Beim Mittagessen verkündete Frau Ludwig, dass die Kriminalbeamten darum gebeten hätten, man möge sich weiter zur Verfügung halten. Das sagen sie immer, dachte Ruth. Sie war sich sicher, dass Annette diejenige war, die die Tat begangen hatte – bei dem Motiv. Ins Haus konnte sie als Nachbarin und Freundin leicht gelangen; doch wie hatte sie das Zimmer finden können? Vielleicht war sie Gloria einfach gefolgt am Abend. Wie mochte sie es getan haben? Nach einem Streit im Affekt? Aber nein, Gloria hatte schließlich noch mit dem Freund telefoniert.

Das musste Ruth unbedingt mit Eveline besprechen – da kam sie schon hereingeschwebt. Sie war noch schlanker geworden nach der langen Reha-Maßnahme, die sie hinter sich hatte.
„War ganz nett heute Morgen, bis auf die Geschichte mit Annette. Anna und Annette waren mal Freundinnen und nun – aus die Maus.“
„Traurig, was in diesen Zeiten alles passierte. Ob Gloria – so nenn ich sie auch weiterhin – sofort nach Düsseldorf geflohen ist? Wie mag sie das angestellt haben?“
„Das können wir sie leider nicht mehr fragen.“ Eveline grinste. „Sie war nicht mein Typ, sah irgendwie immer schlampig aus, allerdings teuer schlampig.“
„Man sah sie häufig in der Cafeteria zusammen mit den Schwestern. Sie spielten wohl Canasta oder so etwas, hatten viel Spaß.“ Ruth hatte sie manchmal beneidet.
„Hatte sich ausgespaßt, irgendetwas war passiert.“ Eveline hatte eine scharfe Beobachtungsgabe, was andere Frauen betraf, das hatte Ruth schon oft bemerkt.
„Stimmt, im Bus und dann hier im Haus hielten sie Abstand voneinander, Gloria saß bei Tisch zwischen Frau Ludwig und Herrn Angerhaus.“
„Der konnte seine Augen nicht von Gloria lassen.“
„Darf er, liebe Eveline – Junggeselle, oder vielmehr Witwer.“
„Von mir aus, ganz netter Typ. Aber wenn ich ihn mit Henk vergleiche …“
Henk war der Geschiedene von Eveline, den sie selbst auch sehr schätzte. Trotz seiner Jahre war er immer noch gutaussehend und sehr sportlich. Das Thema Gloria war somit abgearbeitet, wenn auch nicht abgeschlossen.

„Kann ich Sie einen Augenblick sprechen?“ Gudrun Kolb hielt Ruth auf, als sie gerade ihr Zimmer betreten wollte.
„Kommen Sie herein.“ Ruth öffnete die Tür und lud Gudrun mit einer Handbewegung ein. Die Sonne schien durch die alten Bäume und warf kleine Kringel auf das Fensterbrett.
„Sie haben doch an der Sitzung teilgenommen, wie hat es Ihnen gefallen?“
„Gefallen?“, fragte Ruth und wunderte sich über die Formulierung. „Eigentlich gar nicht“, fuhr sie fort, „das war meine erste Begegnung mit dem Spiritismus und es war sehr unheimlich. Alle schienen bewegt von der Antwort, die doch für Gloria bestimmt war. Mir war plötzlich richtig kalt und Ihnen doch auch, woran lag das wohl?“
„Man weiß eben nie, was einen erwartet – das ist das Spannende. Mich interessiert das alles sehr. Es war nicht meine erste Sitzung, dieses Kältegefühl kommt häufig vor, wird aber nicht von allen gespürt. Diesmal betraf es wohl nur Sie und mich.“
„Nehmen Sie doch bitte Platz.“ Ruth wies auf die beiden Sessel. Sie betrachtete ihre Besucherin neugierig. Sie waren etwa im gleichen Alter, so um die siebzig, Gudrun Kolb hatte noch fast ihre alte Haarfarbe, dunkelbraun, dazwischen ein paar helle Strähnchen. Ihre Augen, die Ruth anblickten, waren tiefbraun. Sicher hatte sie früher sehr gut ausgesehen, brünett, glutäugig, gute Figur – immer noch. Wahrscheinlich taxiert sie mich in diesem Augenblick ebenso.
„Sehr traurig, das Ganze. Warum sie umgebracht wurde, scheint nicht klar zu sein, deshalb dürfen wir nicht abreisen, was wohl einige gern möchten.“ Was will sie von mir?
„Wenn es Sie interessiert, können Sie im Haus am Kirchberg an solchen Sitzungen teilnehmen.“
„Ach, ich weiß nicht recht. Im Moment tendiere ich eher zu Nein. Waren die Ereignisse von gestern nicht ein schlechtes Omen?“