Samstag, 24. September 2016

Unter Verdacht Kapitel 1


Kapitel 1

Donnergrollen und fernes Wetterleuchten. Der Nachtwind bewegte die Spitzengardinen und ließ die Kerzen flackern. Es war die ideale Kulisse für ein solches Ereignis.
Ruth saß aufgerichtet in ihrem Polsterstuhl. An ihrem Rücken spürte sie die Schnitzereien der Stuhllehne. Sie störten sie, aber sie brauchte den festen Halt. Denn sie hatte das Gefühl, nicht hierherzugehören.
„Frau Bergmann, Sie sehen so skeptisch aus“, sagte Gilda, die zu dieser Séance eingeladen hatte.
„Skeptisch? Vielleicht. Eher angespannt. Das ist kein Wunder, ich sitze als Neuling hier.“
„Entspannen Sie sich, es wird Ihnen nichts geschehen.“ Gilda lächelte. Ruth fand sie sympathisch. Die anderen: fünf ältere Damen, ein ebenso alter Herr. Alle seriös gekleidet. Was mögen sie erwarten? Über dem runden Tisch hing eine Lampe von modernem Design, deren Licht gedimmt war. Ein Gegensatz zu den antiken Möbeln ringsum. Die Bilder an den Wänden waren nur schemenhaft zu erkennen.

So sah also ein Ouijabrett aus: unter einer Glasplatte ein helles Blatt Papier, an dessen Rand das Alphabet aufgezeichnet war. In einem kleineren Kreis die Zahlen von 0 bis 9 und in der Mitte in einem Dreieck die Worte JA, NEIN und ENDE. Daneben ein umgedrehtes Wasserglas. Sein Boden sollte Platz für die Finger der Teilnehmer bieten. Darüber wusste Ruth Bescheid.

„Ich denke, wir haben uns auch geistig hier eingefunden, wir können beginnen. Ich übernehme die Führung, werde euch mit dem Vornamen anreden. Liselotte wird sich nicht beteiligen, sie notiert Fragen und Antworten.“ Jetzt wird es ernst, dachte Ruth. Es war still, im Raum und auch in der Natur; wo war das Gewitter geblieben?

Peter Anselm – ein Nachbar, so war er vorgestellt worden – legte als Erster seinen rechten Zeigefinger auf den Glasboden. Seine hellen Augen blickten aufmerksam in die Runde. Annette Zabel war die Nächste, auch sie eine Nachbarin. Ihre dunklen Augen hatten eher einen verträumten Blick. Ihr folgte die erste Teilnehmerin aus Ruths Reisegruppe, Gloria Molenbeck. Ihr fielen die langen Haare ins Gesicht, so dass man ihren Augenausdruck nicht sehen konnte. Jetzt fasste Ruth sich ein Herz und legte ihren Finger auf das Glas. Zuletzt Gudrun Kolb. Nein, zuletzt Gilda, die Hausherrin. Ihre Augen wirkten fast so schwarz wie ihre langen Haare, als sie jeden Einzelnen ansah.

„Ich lade dich ein, in unsere Runde zu kommen“, begann Gilda. Ihre Stimme klang dunkler als zuvor. „Vater, bist du es? Bist du es wieder?“
Mit einem Ruck gelangte das Glas auf das JA.
„Sei herzlich willkommen. Wir beginnen. Du wirst einen anderen Gast begleiten. Wer von uns hat eine Frage?“ Wieder blickte Gilda in die Runde. Sie stockte bei Gloria, die zu ihr hinübersah und jetzt leise fragte: „Eberhard …? Ich habe eben an dich gedacht.“
Das Glas befand sich weiter auf dem JA, aber es stand nicht still, es bewegte sich ein wenig.
„Das heißt JA. Frag bitte weiter, Gloria.“
„Möchtest du mir etwas sagen, Eberhard?“
Das Glas setzte sich zögernd in Bewegung, alle schienen den Atem anzuhalten. Es begann mit einem V, dann ein E, ein R, ein Z. Das Glas huschte jetzt über die Platte. Ruth ergänzte in Gedanken: Verzeihung. Und so kam es, am Ende war es dieses Wort. Liselotte notierte es. Gloria atmete schwer. Sie starrte auf das Glas. „Warum? Warum?“, wisperte sie.
Neben Ruth saß Gudrun, Gudrun Kolb. Sie zitterte, als ob die Botschaft an sie gerichtet wäre. Leise flüsterte sie: „Ja, ja.“ Auch Ruth begann zu zittern, es war plötzlich kühl geworden. Was war los? Was hatte sich hier abgespielt?
Gilda sprach wieder: „Möchte jemand von euch etwas fragen?“
Dazu kam es nicht, denn Gloria begann plötzlich zu röcheln, sie griff sich an die Kehle, als würde ihr das beim Luftholen helfen. Alle sprangen auf, wollten ihr beistehen. Aber Gloria winkte ab. „Lasst nur, lasst nur, das geht vorbei. Ich bin selbst Ärztin, ich weiß mir zu helfen.“
Gilda, die sich für die Runde verantwortlich fühlte, sagte: „Bleibt ruhig, bitte. Wir müssen es beenden, der Kreis darf nicht offen bleiben. Kommt zurück.“ Alle setzten sich und legten wieder ihre Finger auf das Glas; Gilda murmelte ein paar Worte, die Ruth nicht verstand, und das Glas ruckelte zum ENDE.

Schon vor zwei Tagen war Ruths Reisegruppe in Weimar angekommen und hatte sich in der Pension Rosenhag etabliert. Zehn Mitbewohner aus dem Haus am Kirchberg, die ein paar Tage Weimar genießen wollten. Ruth wohnte seit fast einem Jahr in dieser Senioren-Wohnanlage.
Langsam stieg Ruth die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf. Was sich da eben abgespielt hatte, musste sie erst einmal überdenken. Sie hatte nie für möglich gehalten, dass sich tatsächlich so etwas wie ein Geistwesen melden würde, noch dazu sozusagen auf Anfrage. Auf der letzten Stufe stolperte sie und wäre beinahe hingefallen. Die Aufregung.
Gloria Molenbeck hatte die Runde als Erste verlassen. Das Wort ihres Mannes, sicher war es ihr Mann gewesen, hatte sie erschüttert. Auch Gudrun Kolb hatte gezittert. War das Empathie oder hat sie ähnliche Erinnerungen?

Ruth schloss die Tür auf, warf ihre Tasche aufs Bett und zog die Schuhe aus. Sie öffnete das Fenster; die Blätter der Linde dicht am Haus raschelten in der frischen Nachtluft. Als Nächstes machte sie die Stehlampe an, denn das Deckenlicht genügte ihr nicht. Schatten in den Ecken – heute bitte nicht. Eine Flasche Mineralwasser und ein Glas standen auf dem kleinen runden Tisch und sie bediente sich. Endlich setzte sie sich in den Sessel, der vorm Fenster stand.
Diese Frau Molenbeck hatte einen recht pompösen Vornamen: Gloria. Aber so glorios ging es ihr nicht, sie schien schwer krank zu sein; die Gefahr, dass sie irgendwann ersticken würde, schien groß.
Das alles musste Ruth unbedingt mit Eveline, ihrer Freundin, besprechen. Sie machte sich auf den Weg zu ihr, obwohl es schon spät war. Als sie an Glorias Tür vorbeikam, hörte sie, dass eine Besucherin mit ihr sprach.
„Sie wissen doch ganz genau, dass die Anteile mir gehören.“ Glorias Antwort bekam sie schon nicht mehr mit. Eveline öffnete nicht, sie schlief wohl schon. Was mochte es mit den „Anteilen“ auf sich haben?


„Guten Morgen und guten Appetit, liebe Eveline.“ Ruth legte ihrer Freundin die Hand auf die Schulter und ließ sich auf dem Stuhl ihr gegenüber nieder. Das Frühstückszimmer im Haus Rosenhag war gut besucht.
„Wie war’s denn gestern Abend, erzähl mal.“ Eveline war wie immer wissbegierig, ihre dunklen Haare standen wie Stacheln von ihrem Kopf ab, ihre kleinen Hände versuchten vergeblich, sie zu bändigen.
„Interessant“, war das Einzige, was Ruth von sich gab. Sie hatte ihre Gedanken zum gestrigen Abend noch immer nicht geordnet. Um Eveline abzulenken, fragte sie: „Hast du eigentlich einen neuen Friseur? Deine Haare wirken sehr flott.“ Eveline ging auf die Frisurenfrage ein und schoss einen Pfeil ab. „Du könntest auch etwas mit deinen Haaren unternehmen, grau und kurz, das ist langweilig. Und deine Antwort ist nicht gerade aufschlussreich.“ Eveline biss ins Brötchen und tat beleidigt.
„Später mehr, liebe Eveline.“ Der Gang zum Frühstücksbüffet verschaffte ihr einen Aufschub, erst das Kännchen Tee, beim nächsten Mal Brot, Butter und Marmelade.
„Ich kann das immer noch nicht einordnen, ich habe so etwas nie vorher erlebt. Da war tatsächlich jemand.“
„Ein Mann, eine Frau?“
„Ein Mann, wohl der verstorbene Ehemann.“
„Und – was hat er gesagt?“
„Nichts Bedeutungsvolles, falls du das erwartest, keine Worte von Ewigkeitswert. Er bat um Verzeihung.“

Am Nebentisch sprach Gilda Wessel mit Frau Ludwig, der Reiseleiterin, die plötzlich aufsprang. Beide verließen daraufhin das Frühstückszimmer.
„Was ist los? Fehlt wer?“ Eveline reckte ihr Stachelköpfchen, als wittere sie eine Sensation. Auch Ruth sah hinter den beiden her, lachte und meinte: „Du ahnst schon wieder Unheil, oder?“
Nach kurzer Zeit kam Frau Ludwig zurück, sie schien bewegt und aufgeregt zu sein.
„Ich muss Ihnen eine traurige Nachricht überbringen, Frau Molenbeck ist in der Nacht gestorben. Wohl eine Folge ihrer Krankheit. Wie ich gehört habe, hatte sie schon gestern Abend erhebliche Schwierigkeiten mit der Atmung. Ich werde mich jetzt um die Formalitäten kümmern müssen und bitte um Entschuldigung, dass ich nicht für Sie da sein kann.“
Das Unheil war da. Es gab eine Tote, Gloria Molenbeck, eine ihrer Nachbarinnen aus dem Haus am Kirchberg. Eveline hatte ihr Brötchen zurückgelegt, auch Ruth hatte jeden Appetit verloren. Die arme Frau.
Sie hatten sie nicht wirklich gekannt, hatten sie oft in der Halle des Hauses sitzen sehen, allein oder mit anderen Damen, die sich dort die Zeit mit Plaudern vertrieben. Frau Molenbeck war die mit der eleganten, aber etwas schlampigen Kleidung – Originalton Eveline. Was hatte ihr wohl gestern Abend den Atem verschlagen?
„Lass uns ins Freie gehen. Wir wollten doch heute noch einmal zu Goethes Gartenhaus.“ Ruth nahm Eveline am Arm und sie verließen das Frühstückszimmer. Die Sonne schien, das Gewitter war vergessen.

Am Fuß der Außentreppe stand Peter, der Nachbar und Teilnehmer an der abendlichen Runde am Tag zuvor. Er bot den beiden an, sie zu begleiten, wohin auch immer. Er wollte wohl über den gestrigen Abend sprechen und über das, was später geschehen war.
„Ich habe gestern zum ersten Mal an einer solchen Sitzung teilgenommen. Gilda hatte mich immer mal eingeladen, aber ich hatte keine Lust oder ich hatte Befürchtungen, ich weiß nicht recht, weshalb. Und dass die Sitzung solche Folgen hatte …“
„Ja, traurig, Gloria war wohl so mitgenommen von der Erscheinung und von ihrem Anfall, dass sie die Nacht nicht überlebt hat. Wahrscheinlich ein weiterer Anfall, den sie nicht in den Griff bekommen hat. Sie war aus unserer Gruppe und wir sind alle sehr betroffen von der Nachricht. Jetzt wollen wir los, in Richtung Goethes Gartenhaus.“
„Einverstanden“, sagte Peter und stellte sich erst einmal Eveline vor: „Peter Anselm, ein Nachbar dieser entzückenden Pension.“
„Ja, ein schönes altes Haus, richtig verwunschen, die vielen Rosen und Kletterpflanzen, der Name Rosenhag ist so passend. Innen sehr geschmackvoll eingerichtet, die Zimmer und die übrigen Räume.“ Eveline schwärmte.
„Wir haben uns gestern Abend geduzt und obwohl wir uns fremd sind, meine ich, dass wir das auch weiter tun könnten“, sagte Ruth zu Peter gewandt.
„Ich habe gar nicht gewagt, danach zu fragen, aber ich finde es schön, dass du es sagst.“ Peter ergriff Ruths Hand und platzierte einen gekonnten Handkuss, woraufhin Ruth ein wenig verlegen wurde. Eveline schien das zu amüsieren.
„Und was ist mit mir?“, fragte sie mit ihrem charmantesten Lächeln. Was sollte sein? Fröhlich und sich duzend bewegte sich die kleine Gruppe durch den Park zum Gartenhaus. Ruth fühlte sich immer ein wenig unelegant neben der zierlichen Eveline, ihr Körperbau war etwas kompakter. Aber sie war ja auch ein paar Zentimeter größer. Das Bild von Peter hatte sich komplettiert: Was sie gestern für blond gehalten hatte, war schnödes Grau, die hellen Augen waren blau.

Zurück in der Pension, erwartete sie ein Tohuwabohu: In der Eingangshalle standen neben Gilda und Frau Ludwig zwei Männer, der eine war Dr. Freiling, wie sich herausstellte. Alle debattierten heftig.
Der Fremde rückte näher an den Arzt heran. „Gloria hat mich in der letzten Nacht angerufen. Sie fühlte sich bedroht. Das habe ich Ihnen nun doch schon drei Mal gesagt. Jemand hatte sie in ihrem Zimmer aufgesucht, hatte eine Auseinandersetzung mit ihr. Ist später zurückgekommen und … sie ist nicht einfach so gestorben. Man hat ihr etwas angetan. Das muss untersucht werden. Das können Sie nicht verschleiern.“
Gilda Wessel als Inhaberin der Pension Rosenhag versuchte, den Mann zu beruhigen. „Hier wird nichts verschleiert. Sie muss einen Anfall gehabt haben, ihr Herz hat versagt. Sie als ihr Freund müssen doch gewusst haben, wie krank sie war. Frau Ludwig hat alle Krankenunterlagen der Leute aus dem Kirchberg dabei. So hatte Doktor Freiling einen Anhaltspunkt für seinen Totenschein.“

Auch der Arzt schien außer sich zu sein. „Ich verbitte mir Ihre Unterstellungen. Aber wenn Sie meinen, dass etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen ist, dann rufen Sie doch die Polizei. Ich habe mir nichts vorzuwerfen.“

Ruth war neben der Haustür stehengeblieben, Eveline dicht hinter ihr und daneben der Nachbar Peter. Eveline wisperte nur ein Wort: „Mord.“
Der Fremde, offenbar ein Freund der Toten, wandte sich an Frau Ludwig, die für die Gruppe aus dem Rheinland verantwortlich war. „Wo ist Gloria denn jetzt? Wo ist ihre Leiche? Ich will sie sehen.“
Die Antwort kam von Gilda: „Frau Molenbeck wurde vom Beerdigungsinstitut abgeholt, die Angehörigen müssen entscheiden, wie es weitergeht. Frau Ludwig kümmert sich darum.“
„Und dann ist die Leiche verschwunden und es bleibt ungeklärt, was geschehen ist. Ich will sie sehen.“
Gilda übergab die Adresse des Instituts und der Freund verließ die Pension.

Schweigen breitete sich aus, man sah einander an, wusste nicht, was man sagen sollte. Dass eine Teilnehmerin an der Weimar-Fahrt gestorben war, war schon schlimm genug. Dass unterstellt wurde … – ja, was denn eigentlich? Ruth fühlte sich unsicher. Sie war bei der gestrigen Veranstaltung dabei gewesen, ebenso Gilda Wessel, sie hatten den schlimmen Anfall miterlebt. Sollte jemand die Gelegenheit ergriffen haben …?

Ruth reichte Peter die Hand und meinte: „Wir sehen uns sicher noch, für uns hier steht gleich das Mittagessen auf dem Tisch.“
Sie wollte vorher erst einmal allein sein, ohne Eveline darüber nachdenken, was denn wohl geschehen sein könnte. Sie hatte gestern Abend Gloria in ihrem Zimmer reden gehört. Mit wem? Hatte der Arzt eben etwas darüber gesagt, wie er sie aufgefunden hatte? Sie waren erst dazugekommen, als die Debatte schon heftig in Gang war. Vielleicht durfte er sich dazu gar nicht äußern. Vielleicht wollte er Gilda auch Unannehmlichkeiten ersparen. Über den Anfall vom Vorabend hatte man ihn unterrichtet, ob aber über den Anlass der Zusammenkunft? Eine unschöne Situation war es auf jeden Fall für den Rosenhag.

Am Nachmittag lag Spannung über der Pension, alle Gäste schienen etwas zu erwarten. Zurzeit war nur die Gruppe aus dem Haus am Kirchberg zu Gast. In der Ferne braute sich schon wieder ein Gewitter zusammen.
Frau Ludwig hatte am Vormittag wahrscheinlich mit der Geschäftsführung des Hauses am Kirchberg geklärt, welche Angehörigen oder sonstige Kontakte sich um die Rückführung der Leiche kümmern würden. Wer würde hier auftauchen und Fragen stellen? Wer von den Kirchbergern hatte Gloria Molenbeck näher gekannt? Man saß im Frühstücksraum zusammen. Anscheinend wollte niemand allein sein. Oder war es die Neugier?
Die beiden „Schwestern“ wurden eifrig kontaktiert. „Schwestern“ war die Bezeichnung für zwei Frauen – die Schwestern waren. Man nannte sie so, weil man zu faul war, ihre beiden Namen jeweils anzugeben, wenn man von ihnen sprach. Da war Schwester Nummer eins, die ältere, Erika Rheinberg, und Schwester Nummer zwei, Luise Burger, mindestens zehn Jahre jünger. Sie waren sehr beliebt im Haus, ebenso in der Familie, denn sie erhielten oft Besuch von Verwandten. Sie hatten eine Kartenrunde mit Gloria gehabt, Canasta. Sie wussten nicht viel über deren Verwandte, sie sei geschieden gewesen, auch Witwe, da käme wohl niemand hierher nach Weimar. Ruth und Eveline saßen mittendrin und schwiegen. Auch die anderen verstummten mit der Zeit.

„Guten Tag, meine Damen, meine Herren. Mein Name ist Sassendorf, Hauptkommissar Sassendorf.“ Ein energisch aussehender Mann betrat neben Gilda Wessel den Raum; hinter den beiden ein jüngerer Beamter, Oberkommissar Kampwitz, so wurde er vorgestellt. Sie stellten Fragen, notierten Namen, erfragten die Verbindungen zu Gloria Molenbeck. Niemand wusste etwas. Aber auch die Kommissare waren nicht gesprächig, lediglich, dass Frau Molenbeck keines natürlichen Todes gestorben war, gaben sie bekannt. Das bedeutete, dass alle Teilnehmer der Fahrt aus Düsseldorf sich dazu äußern mussten, wo sie in der Nacht, etwa gegen … Uhr, waren. Ruth und Eveline sahen sich an: Das war nach ihrem Geschmack. Jetzt galt es zu kombinieren: ein Unfall oder doch ein Mord?

Mitten in den Auftritt der Kommissare platzte Rechtsanwalt Beck aus Düsseldorf, der Bevollmächtigte von Gloria Molenbeck.
„Na, dann sind wir ja komplett“, sagte Hauptkommissar Sassendorf. Gilda führte ihn und den Anwalt ins Nebenzimmer und Sassendorf setzte ihn ins Bild. Leider waren nur Bruchstücke ihres Gespräches zu verstehen. Man hatte Frau Molenbeck wohl im Sessel sitzend aufgefunden.

„Unser Fazit: Niemand von Ihnen kannte Frau Molenbeck näher, alle fanden sie reizend, Feinde hatte sie keine – aber nun ist sie tot. Ermordet.“ Sassendorf hatte es wohl gern dramatisch, ob korrekt oder nicht, war hier gleichgültig. Jetzt war es ausgesprochen. Und das ließ alle Anwesenden erstarren. Während der Abwesenheit des Kommissars hatten alle stumm dagesessen. Auch Kampwitz hatte geschwiegen.
„Ehe Sie uns verdächtigen, fragen Sie vielleicht mal die Weimarer Freunde von Frau Molenbeck, sie stammte von hier. Und fragen Sie die Herrschaften, die an der Geisterstunde teilgenommen haben.“ Der Mitreisende Wilfried Overkamp schien erbost darüber zu sein, dass man ihnen unterstellte, nicht die Wahrheit gesagt, gar gemordet zu haben.
„Danke, Herr Overkamp, darauf wären wir nicht gekommen.“ Sassendorf verbeugte sich, winkte Kampwitz zu und sie entschwanden.

Nun starrten alle Ruth an – sie war schließlich an der Zusammenkunft beteiligt gewesen. Das Worte Séance wollte niemandem über die Lippen kommen.
„Frau Molenbeck ging es gestern Abend nicht gut, sie hatte eine Art Erstickungsanfall, ich habe gedacht, das hätte sich in der Nacht wiederholt und dann zu ihrem Tod geführt“, sagte Ruth.
„Sind Sie aber naiv, so einfach stirbt es sich nicht, da hat jemand nachgeholfen. Das haben wir ja eben gehört. Kissen liegen genug herum in den Zimmern.“  Das war der Beginn wildester Spekulationen, Ruth saß mittendrin und wünschte sich weit weg.


„Habt ihr gehört, dass man auch Annette, Liselotte und mich vernommen hat? Wir waren schließlich bei der Séance dabei. Alibis haben wir nicht, woher auch, wir leben alle allein.“ Peter stand wieder vor der Treppe zum Rosenhag. Ruth fand, dass er ein gutaussehender Mann war, wie er da kerzengrade in der Morgensonne stand.
„Wir haben nichts weiter von der Polizei gehört, seitdem sie hier abgerauscht sind. Aber es ist ja noch früh am Tag.“
„Ich fürchte, Annette könnte in Verdacht geraten. Sie ist damals im Zusammenhang mit der Republikflucht von Gloria verhaftet worden. Das hatte dann ein Berufsverbot zur Folge. Annette ging es lange Zeit sehr schlecht.“
„Und sie haben sich erst jetzt hier wiedergesehen?“
„Ich denke, ja. Annette hatte mir mal ihre Geschichte erzählt, sie war 1990 rehabilitiert worden und konnte hier im Krankenhaus arbeiten.“
„Ein Motiv wäre das. Aber hat sie Gloria überhaupt erkannt? Man hat ihr nichts angemerkt.“
„Doch, sie glaubt, dass es sich um ihre ehemalige Freundin handelte, sie hieß damals allerdings nicht Gloria, sondern Anna. War von ihrem Mann, einem Jugendfreund, geschieden. Wir haben heute Morgen miteinander telefoniert. Ich glaube nicht, dass sie ihr was angetan hat. Wie sieht es aus, unternehmen wir etwas?“
Die kleine Gruppe nahm wieder Kurs auf den Park. Das Wetter war zu schön, um im Haus zu bleiben, und die Polizei hatte offensichtlich nichts dagegen, dass man herumspazierte. Die Beamten waren nicht wieder erschienen.
„Wenn ich Polizist wäre, würde ich die gemeinsame Vergangenheit für ein großartiges Motiv halten. Aber vielleicht wissen sie nichts von der alten Geschichte.“ Ruth murmelte vor sich hin. Ob Annette im Zimmer von Gloria gewesen war, davon hatte Peter nichts gesagt.

Beim Mittagessen verkündete Frau Ludwig, dass die Kriminalbeamten darum gebeten hätten, man möge sich weiter zur Verfügung halten. Das sagen sie immer, dachte Ruth. Sie war sich sicher, dass Annette diejenige war, die die Tat begangen hatte – bei dem Motiv. Ins Haus konnte sie als Nachbarin und Freundin leicht gelangen; doch wie hatte sie das Zimmer finden können? Vielleicht war sie Gloria einfach gefolgt am Abend. Wie mochte sie es getan haben? Nach einem Streit im Affekt? Aber nein, Gloria hatte schließlich noch mit dem Freund telefoniert.

Das musste Ruth unbedingt mit Eveline besprechen – da kam sie schon hereingeschwebt. Sie war noch schlanker geworden nach der langen Reha-Maßnahme, die sie hinter sich hatte.
„War ganz nett heute Morgen, bis auf die Geschichte mit Annette. Anna und Annette waren mal Freundinnen und nun – aus die Maus.“
„Traurig, was in diesen Zeiten alles passierte. Ob Gloria – so nenn ich sie auch weiterhin – sofort nach Düsseldorf geflohen ist? Wie mag sie das angestellt haben?“
„Das können wir sie leider nicht mehr fragen.“ Eveline grinste. „Sie war nicht mein Typ, sah irgendwie immer schlampig aus, allerdings teuer schlampig.“
„Man sah sie häufig in der Cafeteria zusammen mit den Schwestern. Sie spielten wohl Canasta oder so etwas, hatten viel Spaß.“ Ruth hatte sie manchmal beneidet.
„Hatte sich ausgespaßt, irgendetwas war passiert.“ Eveline hatte eine scharfe Beobachtungsgabe, was andere Frauen betraf, das hatte Ruth schon oft bemerkt.
„Stimmt, im Bus und dann hier im Haus hielten sie Abstand voneinander, Gloria saß bei Tisch zwischen Frau Ludwig und Herrn Angerhaus.“
„Der konnte seine Augen nicht von Gloria lassen.“
„Darf er, liebe Eveline – Junggeselle, oder vielmehr Witwer.“
„Von mir aus, ganz netter Typ. Aber wenn ich ihn mit Henk vergleiche …“
Henk war der Geschiedene von Eveline, den sie selbst auch sehr schätzte. Trotz seiner Jahre war er immer noch gutaussehend und sehr sportlich. Das Thema Gloria war somit abgearbeitet, wenn auch nicht abgeschlossen.

„Kann ich Sie einen Augenblick sprechen?“ Gudrun Kolb hielt Ruth auf, als sie gerade ihr Zimmer betreten wollte.
„Kommen Sie herein.“ Ruth öffnete die Tür und lud Gudrun mit einer Handbewegung ein. Die Sonne schien durch die alten Bäume und warf kleine Kringel auf das Fensterbrett.
„Sie haben doch an der Sitzung teilgenommen, wie hat es Ihnen gefallen?“
„Gefallen?“, fragte Ruth und wunderte sich über die Formulierung. „Eigentlich gar nicht“, fuhr sie fort, „das war meine erste Begegnung mit dem Spiritismus und es war sehr unheimlich. Alle schienen bewegt von der Antwort, die doch für Gloria bestimmt war. Mir war plötzlich richtig kalt und Ihnen doch auch, woran lag das wohl?“
„Man weiß eben nie, was einen erwartet – das ist das Spannende. Mich interessiert das alles sehr. Es war nicht meine erste Sitzung, dieses Kältegefühl kommt häufig vor, wird aber nicht von allen gespürt. Diesmal betraf es wohl nur Sie und mich.“
„Nehmen Sie doch bitte Platz.“ Ruth wies auf die beiden Sessel. Sie betrachtete ihre Besucherin neugierig. Sie waren etwa im gleichen Alter, so um die siebzig, Gudrun Kolb hatte noch fast ihre alte Haarfarbe, dunkelbraun, dazwischen ein paar helle Strähnchen. Ihre Augen, die Ruth anblickten, waren tiefbraun. Sicher hatte sie früher sehr gut ausgesehen, brünett, glutäugig, gute Figur – immer noch. Wahrscheinlich taxiert sie mich in diesem Augenblick ebenso.
„Sehr traurig, das Ganze. Warum sie umgebracht wurde, scheint nicht klar zu sein, deshalb dürfen wir nicht abreisen, was wohl einige gern möchten.“ Was will sie von mir?
„Wenn es Sie interessiert, können Sie im Haus am Kirchberg an solchen Sitzungen teilnehmen.“
„Ach, ich weiß nicht recht. Im Moment tendiere ich eher zu Nein. Waren die Ereignisse von gestern nicht ein schlechtes Omen?“