Freitag, 18. November 2016

Unter Verdacht Leseprobe Nr. 7

 Unter Verdacht Kapitel 5
„Hallo Frau Bergmann, wir haben uns ja lange nicht gesehen, wie geht’s denn?“ Frau Blumenthal, Irmi Blumenthal, kam auf Ruth zu und schüttelte ihr beide Hände.
„Ich habe mich auch gefragt, wo Sie sind – sonst liefen wir uns doch öfter mal über den Weg“, sagte Ruth. Sie freute sich, die Nachbarin wiederzusehen; es kam vor, dass man einander gar nicht mehr wiedersah.
„Es liegt an mir, ich hatte eine Einladung zu einer Rundfahrt über die Kanäle im Osten und das wollte ich mir nicht entgehen lassen. Anschließend bin ich in Lüneburg am Elbe-Seitenkanal hängengeblieben und so vergeht die Zeit.“
„Beneidenswert“, sagte Ruth und beneidete Irmi Blumenthal wirklich. Wie lange hatte sie nicht mehr auf einem Boot gestanden oder gar damit eine Fahrt unternommen. Vorbei.
„Davon müssen Sie mir unbedingt mehr erzählen“, sagte sie und die beiden Damen ließen sich auf den rosengeblümten Sesseln in der Halle des Hauses am Kirchberg nieder.
Irmi Blumenthal legte los, außer Ruth kannte sie niemanden, der sich für Boote interessierte. Sie hatten beide zusammen mit ihren Ehemännern eine praktische Elf-Meter-Yacht gehabt, nicht zu groß und nicht zu klein. Fahrten durch die Kanäle, mal in Deutschland, mal durch Frankreich, hatten auch Ruth und ihr Klaus genossen.
Irgendwann wurden die Kehlen trocken und man bewegte sich in Richtung Cafeteria. Ruth schilderte die Weimar-Fahrt und die Folgen. Irmi Blumenthal aber wunderte sich nicht, dass es Gloria Molenbeck „erwischt“ hatte, wie sie sagte.
„Die Gute war ein wenig zu sehr von sich überzeugt. Eigentlich sind wir alle aus dem Alter heraus, dass wir uns für das andere Geschlecht interessieren, auch wenn man den einen oder anderen schon mal etwas näher kennenlernt. Bei Frau Molenbeck war es nicht der eine oder andere, sondern gleich eine ganze Hand voll.“
Ruth merkte auf und hoffte, dass ihre Begleiterin etwas mehr wüsste. Die ließ sich nicht bitten, sondern erzählte gleich weiter: „Der armen Frau Wintzig hat sie den Herrn Angerhaus ausgespannt und der ließ sich das gern gefallen. Ist ein flottes Kerlchen, wenn ich das mal so sagen darf.“ Ruth wusste nicht so recht, was sie sagen sollte, entschloss sich aber schnell, damit herauszurücken, dass auch sie Herrn Angerhaus’ Gesellschaft zu schätzen wisse. „Er hat enorme Geschichtskenntnisse“, fügte sie an, um keinen anderweitigen Verdacht aufkommen zu lassen.
„Ja, das stimmt, er hat mal einen Vortrag über Straßen gehalten, wie heißen sie doch gleich?“
„Gerade Straßen, vorwiegend wohl in England vertreten.“
„Ja, richtig, ‚Gerade Wege in England‘, das war sein Thema. Ist etwas länger her. Frau Wintzig hing an seinen Lippen, sie ist wohl auch in diesem Geschichtsverein. Ebenso die berühmt-berüchtigte Gloria.“
„Wieso denn berühmt-berüchtigt?“
„Wissen Sie das nicht? Sie hat mit Frau Kolb zusammen Séancen veranstaltet, keine Ahnung, wer da sonst noch teilgenommen hat. Ich jedenfalls nicht – Firlefanz.“
Die beiden Hexen. Da war es wieder. Nicht die Schwestern, sondern Gudrun und Gloria? Oder?
„War Frau Wintzig denn auch dabei?“
„Keine Ahnung. Sie scheint mir ein bisschen zu langweilig dafür zu sein, aber wer weiß? Es heißt übrigens, dass sie mal eine Zeitlang in der Praxis von Frau Dr. Molenbeck gearbeitet hat.“
„Die seltsamsten Verwicklungen gibt es hier im Haus“, sagte Ruth, „auch uns verbindet ja etwas, was sonst niemanden interessiert.“ So kamen sie wieder zu den Erinnerungen an frühere Zeiten zurück. Dass sie selbst an einer Séance teilgenommen hatte, zusammen mit Gloria und Gudrun, erwähnte Ruth nicht. Mit berühmt-berüchtigten Damen wollte sie lieber nicht in Zusammenhang gebracht werden.

Wer waren nur diese verdammten Hexen? Mit dem Wort Hexen hätte Ruth jetzt am ehesten die Damen und Herren vom Geschichtsverein verbunden. Da musste sie ansetzen, wenn sie weiterkommen wollte. Wer genau dazugehörte, wusste sie nicht, sie musste also mit Angerhaus Kontakt aufnehmen. Zunächst einmal telefonisch.

„Herr Angerhaus, wir haben letztens darüber gesprochen, wer Gloria Molenbeck in Weimar erstickt haben könnte, sollten wir uns nicht noch einmal darüber austauschen?“
„Nichts lieber als das. Wir könnten uns mal abends zusammensetzen, nicht gerade bei Kerzenschein, aber bei einem Gläschen Wein.“
„Gut, dann vielleicht gleich heute Abend – um acht Uhr?“
„Abgemacht.“

„Lieber Herr Angerhaus, wer gehört eigentlich alles zu Ihrem Geschichtsverein?“ Ruth konnte sich ein leichtes Lächeln nicht verkneifen. Angerhaus gab bereitwillig Auskunft.
„Von denen, die Sie von der Reise her kennen, Frau Kolb natürlich, die Initiatorin, dann Hilde Wintzig, das Ehepaar Overkamp. Die arme Gloria und meine Wenigkeit. Darüber hinaus ein weiteres Ehepaar, gelegentlich Ingeborg Heltrup.“  Er war ganz stolz, dass es doch eine größere Gruppe war, die zum Geschichtsverein gehörte, es hätte für einen „richtigen“ Verein gereicht.
„Ach, Frau Bergmann, könnten wir uns nicht duzen? Ich weiß, dass Sie die Initiative ergreifen sollten, aber mir würde es gefallen, wenn Sie ja sagen würden. Und in unserer Geschichtsrunde duzen wir uns sowieso fast alle.“
Ruth hatte ganz und gar nichts dagegen, sie fand Angerhaus sehr nett. Sie hob ihr inzwischen gefülltes Weinglas und meinte: „Ja, gern, lieber Friedhelm, das ist doch dein Name? Das ist aber noch nicht der Einstieg in deinen Geschichtsverein.“
Was Hexen betraf: Weder Gudrun Kolb noch Hilde Wintzig konnte Ruth sich auf dem Blocksberg vorstellen. Sollte der Geschichtsverein also eine Sackgasse sein? Sackgasse statt geradem Weg.

Na, wenn schon, Friedhelm immerhin war ein Gewinn – natürlich wegen seiner interessanten Geschichtskenntnisse. Und um ihm eine Freude zu machen, fragte sie ihn nach den geraden Wegen und ob es die auch in Deutschland gebe?
„Aber ja, auch hier in Deutschland gibt es viele gerade Wege. In England hat man sie besser erforscht. Dort bilden sie Verbindungen zwischen Kultstätten und Kirchen – hier gibt es zum Beispiel die Totenwege.“
„Was ist denn das? Totenwege? Seht ihr Gespenster?“
„Nein, nein, das sind gerade Wege, auf denen man Verstorbene zu Friedhöfen gebracht hat. Wir haben mal einen Ausflug zu einem solchen Weg gemacht. Von Niederkrüchten nach Odilienberg.“
„Ihr wart im Elsass?“
„Nein, nicht im Elsass, der Weg liegt am Niederrhein. Schnurgerade führt er von Niederkrüchten über die Grenze nach Holland, nach Odilienberg.“
„Diese Heilige scheint mehrere Verehrungsstätten zu haben.“
„Ja, hat sie. Ich glaube, dass dir unsere Treffen und unsere Ausflüge gefallen werden.“
Treffen und Ausflüge mit Angerhaus – warum nicht?
„Aber was hat es mit den Totenwegen auf sich?“
„Darüber gibt es verschiedene Meinungen. Die Nächstliegende ist, dass die Toten an einer geheiligten Stelle beerdigt werden sollten, denn nicht jedes Dorf oder vielmehr jeder Weiler hatte eine Kirche und einen Friedhof.“
„Und was weiter?“
„Ja, das geht schon eher zurück in frühe Zeiten: Man wollte verhindern, dass der Tote zurückkehrte in seine Heimatgemeinde.“
„Aber auf geraden Wegen hatte er es besonders leicht, denke ich.“
„Klingt logisch, aber es gibt verschiedene Theorien dazu und über so etwas reden wir im Geschichtsverein.“
Na, warte, wozu gibt es Google, dachte Ruth und ließ von Friedhelm ab. Sie blickte sich in der Cafeteria um und sah die Augen von Hilde Wintzig auf sich gerichtet. Sie hatte schon seit einer Weile das Gefühl gehabt, dass Friedhelm und sie unter Beobachtung standen, hatte es aber abgeschüttelt. Nun fragte sie sich natürlich, galt das ihr oder galt es Friedhelm. Vielleicht störte es Frau Wintzig, dass Angerhaus mit ihr zusammensaß. Sicher wüsste sie gern, was da beredet wurde. Hatte Irmi Blumenthal nicht erzählt, dass Hilde Wintzig recht eifersüchtig gewesen war, was Gloria betraf.
„Wir treffen uns hin und wieder auf ein Gläschen Wein und reden auch über Themen, die nichts mit Geschichte zu tun haben. Allerdings, da fällt mir gerade ein: Wie wäre es mal mit einem kleinen Trip nach Hilden, da gibt es eine sehr schöne romanische Kirche, leider nicht so bekannt wie andere. Es lohnt sich.“
„Ja, warum nicht? Ist ja nicht allzu weit.“

Mittelalter, Hexen – Ruth kam nicht los von dem leidigen Thema. Dabei hatte Friedhelm es nicht einmal erwähnt – er gehörte lediglich einem Geschichtsverein an. Es war ihre eigene üppige Fantasie, die immer wieder bei diesem Reizwort landete. Nein – der Stachel bestand darin: Es waren Evelines Worte gewesen.

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