Donnerstag, 12. Oktober 2017

Heimliches Gift - Ende Kapitel eins


Im Speisesaal war es wieder recht laut am nächsten Tag; noch hatten nicht alle ihr Essen auf dem Tisch, da war Zeit für einen mehr oder weniger lebhaften Meinungsaustausch. So schlimm waren die Zeiten noch nie gewesen. Die Türkei, die USA, die schrecklichen Kriegswirren im Nahen Osten. Über die heimische Politik wurde vorsichtshalber nicht diskutiert.

Ruth und Eveline saßen an ihrem Zweipersonen-Tisch an der Längswand des Saals, hier war es ein wenig ruhiger. Ruth hatte den Blick auf die Eingangstüren und auf die Küchentüren daneben, die sich ständig öffneten und schlossen, das Servieren begann. Eveline konnte durch die Fenster hinaussehen und berichtete gelegentlich über die Vorbeifahrt von Lastwagen, Feuerwehrautos oder besonders teuren Karossen.

„Müsstest du nicht mal wieder zum Doktor gehen?“, fragte Eveline, senkte ihren Blick und stocherte im Gemüse herum, Wirsing.
„Wieso denn das? Ich fühle mich wohl – oder sehe ich so schlecht aus?“ Ruth ließ ihr Besteck fast fallen und starrte Eveline an.
„Nein, nein, du siehst aus wie immer.“
„Das ist auch kein Kompliment“, meinte Ruth. „Also, wieso ein Arztbesuch?“
„Das liegt doch auf der Hand. Wollten wir nicht herausbekommen, wieso Frau Niemann so unerwartet gestorben ist? Du könntest diese Frau Doktor Weise ganz unauffällig danach fragen, ihr wart doch beide bei der Trauerfeier.“ Ruth verstand, war aber abgeneigt.
„Ach, weißt du, das geht uns doch eigentlich gar nichts an. Und wenn sie etwas damit zu tun hat, wird sie die Frage gar nicht gern hören. Warum soll ich sie in Verlegenheit setzen?“
„Spielverderber.“ 

Hilde Wintzig, Friedhelm Angerhaus und Ruth schlenderten auf die Cafeteria zu, sie wollten nach der Montagabend-Diskussion ihrer Gruppe noch ein Gläschen Wein trinken. Und lästern, natürlich. Das taten sie meistens nach dem Treffen des Geschichtsvereins.
„Wir müssen ganz unbedingt dafür sorgen, dass weitere Interessenten unserem Geschichtsverein beitreten und an unseren Diskussionen teilnehmen; immer die gleichen Argumente, immer die gleichen Erinnerungen, das wird langweilig“, begann Hilde. Ruth und Friedhelm nickten, aber woher nehmen …
Ruth war vor ein paar Monaten Mitglied des „Geschichtsvereins“ geworden. Das Interesse war breit gefächert, sie hatte zum Beispiel die Geraden Wege kennengelernt, das Lieblingsthema von Angerhaus, dem pensionierten Lehrer. Sie hatten sogar einen Ausflug ins Sauerland unternommen, wo von vielen interessanten Straßen die Rede war. Es wimmelte sozusagen davon, Originalton Eveline, der Ruth davon erzählt hatte.
„Eveline wird ganz sicher demnächst teilnehmen. Allerdings geht es ihr wie mir: Die Geschichte beginnt erst wirklich bei den Römern.“ Angerhaus lachte, das kannte er. Heute trug er einen dunklen Pullover über seinem wohlgebügelten Hemd. Und sah doch eigentlich ganz gut aus, fand Ruth.
„Und was ist mit den alten Griechen?“, fragte er und guckte ein wenig verschmitzter. Will er mich herausfordern?
Ruth ließ sich nicht herausfordern, sondern hatte ein Argument parat, das zog. „Du musst bedenken, die Römer haben wir hier im Rheinland hautnah. Da ist vieles zu besichtigen, ich will im nächsten Jahr mal mit Eveline in die Eifel fahren und eine Besichtigungstour starten. Jetzt ist es schon zu kalt.“
„Wir könnten zusammen mal etwas hier in der Nähe ansehen, wie wär’s zum Beispiel mit Xanten?“ Hilde schaltete sich ein. „Wir haben mit den Senioren der Volkshochschule eine sehr interessante Führung dort gehabt. Es wird immer wieder etwas ausgegraben.“ Ruth fiel ein, dass Hilde während ihrer Berufstätigkeit eine der Volkshochschulen im Umland geleitet hatte.
„Nicht schlecht.“ Angerhaus schien einverstanden. Er wandte sich aber an Ruth und fragte: “Die nette Person gestern an Eurem Tisch in der Cafeteria – ob die nicht vielleicht Interesse am Geschichtsverein hat? Du kennst sie anscheinend gut.“
„Wär‘ möglich“, antwortete Ruth und dachte, dass eine gewisse Nähe zu Hanne Hauser nicht schlecht wäre – da war doch der Verdacht zu klären.
„Ich werde sie fragen, sie ist wirklich sehr nett.“
Hilde kam auf die Fahrt nach Xanten zurück, sie würde sich auf eine neue gemeinsame Fahrt freuen. Das schien tatsächlich so zu sein, ihre sonst immer blassen Wangen hatten an Farbe gewonnen, das machte sie gleich ein wenig jugendlicher. Da hatten sie also einen Plan für das nächste Jahr. Schön. Schön für ältere Damen, die sich über jede Abwechslung freuten. Übrigens nicht nur kultureller Art.
Hilde sah sich um, ob jemand zu nahe bei ihnen saß und flüsterte: „Es wird schon wieder über Sterbehilfe geredet.“
Auch Friedhelm sah sich erst einmal um, fuhr sich durch seine immer noch blonden Haare und fragte dann: „Niemann?“
Ruth saß ganz still dabei, gut, dass Eveline nicht mitgekommen war.
„Ja, Frau Niemann“, sagte Hilde. Dann sah sie Ruth auffordernd an. Als die schwieg, flüsterte sie wieder: „Du musst doch mehr darüber wissen. Warst du nicht bei der Trauerfeier?“
„Das war ich, ja, aber ihr denkt doch nicht, dass über ein solches Gerücht bei einer Trauerfeier geredet wird.“
„Wie haben sich die Angehörigen denn verhalten?“ Friedhelm war genauso neugierig wie Hilde.
„Etwas seltsam schon, die Söhne hielten deutlich Abstand vom Vater.“ Das war Ruth tatsächlich aufgefallen. Und die Bemerkungen des Sohnes waren ihr noch in Erinnerung. Sollte sie etwas dazu sagen?
„Der Ehemann kann‘s nicht gewesen sein, der war zu der Zeit, als seine Frau starb, gar nicht zu Hause.“ Hilde hatte sich anscheinend umgehört. Sollte sie jetzt die Nichte ins Gespräch bringen, fragte sich Ruth, die Überlegung war jedoch überflüssig. Hilde fuhr fort: „Es gibt da eine Nichte, die Ärztin ist, praktiziert hier am Ort, Frau Doktor Weise. Hält nebenher hier im Haus Sprechstunden ab, jeden Mittwoch, sie hat einen Raum innerhalb der Pflegeabteilung.“
Das war Ruth neu, sie war in die Praxis am Markt gegangen, wenn sie Blutdrucktabletten brauchte. Angerhaus wusste anscheinend davon, fand das praktisch. Pries in den höchsten Tönen die Fähigkeiten der Frau Doktor und hob hervor, wie gut sie aussieht. Hilde guckte ein bisschen grämlich und Ruth fiel ein, dass da mal etwas gewesen war, zwischen Hilde und Friedhelm. Hilde hatte heute wieder ein Twinset in grau an, was sie leider nicht attraktiver machte. Es gab Leute, die sie immer schon eine graue Maus nannten. Aber da war sie nicht die einzige hier im Haus am Kirchberg, dachte Ruth.
„Praktisch, eine Ärztin in der Familie. Frau Niemann soll sehr krank gewesen sein…“ Hilde kam zum Thema zurück.
„Du kannst dir also vorstellen, dass sie …“, fragte Ruth.
„Vorstellen kann man sich vieles“, mischte Friedhelm sich ein. „Ich will es mir nicht vorstellen. Das ist doch strafbar und wir sollten keine Gerüchte in die Welt setzen.“ Er hatte die Lust am Spekulieren anscheinend verloren.
Hilde lehnte sich über den Tisch zu ihm hin und flüsterte: „Du hast doch selbst davon angefangen am Samstagabend. Du hast nicht weit vom Tisch der Trauergesellschaft gesessen, und ...“ Mehr wollte Hilde jetzt wohl nicht sagen, sie lehnte sich also wieder zurück und blickte auf ihr inzwischen geleertes Glas.
„Trinken wir noch ein Glas?“, fragte Friedhelm, der den Blick bemerkt hatte und anscheinend nicht über den Samstagabend reden wollte.
Ruth und Hilde meinten, sie seien müde und wollten schlafen gehen, und Friedhelm schien das recht zu sein.
Ruth wollte noch über das Gehörte nachdenken. Sollte es tatsächlich ein Fall von Sterbehilfe sein? Das ging sie nichts an, das war eine private Entscheidung. Andererseits – wieso hatte Frau Niemann ihre Söhne zu sich gerufen und hatte dann ihr Kommen nicht abgewartet? 

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