Mittwoch, 25. Oktober 2017

Heimliches Gift Kapitel 3


„Guten Abend, Frau Bergmann, Wunderlich hier. Ich würde gern Sie und Eveline morgen Abend zum Wildessen einladen.“
„Guten Abend, Herr Wunderlich, das ist sehr nett von Ihnen, weiß Eveline Bescheid?“
„Ja, und sie hat zugesagt.“
„Da werde ich nicht nein sagen können. Zumal zu einem so erfreulichen Anlass.“ Ruth wusste, dass mal wieder ein Schlemmerabend im Haus am Kirchberg anstand. Der Jahreszeit entsprechend: Wild mit allem Drum und Dran.
„Also dann morgen um sechs Uhr, einverstanden? Ich reserviere  einen Tisch.“
„Schön, ich freu‘ mich.“ Das tat Ruth tatsächlich, sie mochte diesen Herrn Wunderlich, der bekannt war als der Feinschmecker des Hauses. Und sie kannte ihn inzwischen ganz gut. Außerdem – irgendwo mussten sie mit ihren Nachforschungen anfangen. Hans-Jürgen Wunderlich kannte viele Leute im Haus, er wohnte seit einer Reihe von Jahren hier. War einer aus der näheren Umgebung, aus Solingen. Hatte da eine Firma gehabt, die er mit gutem Gewinn verkauft hatte. Er lebte ein sorgenfreies Leben, wie viele hier im Haus am Kirchberg. Viele, nicht alle, dachte Ruth. Manch eine Witwe konnte sich gerade ein Ein-Zimmer-Apartment leisten. Teuer genug. Wer nicht berufstätig gewesen war, wie sie selbst, sondern Kinder großgezogen hatte, musste mit einer Witwenrente auskommen, nur sechzig Prozent von der Rente des Ehemannes. Viele allerdings hatten ein Haus bewohnt, das verkauft worden war, bevor man hier einzog. Muss schwer gewesen sein, dachte Ruth, von einem Haus in eine Wohnung zu ziehen, die nicht viel größer war als das bisherige Wohnzimmer. Was musste man alles zurücklassen.



Am Samstagmorgen waren Einkäufe im nahen Supermarkt zu machen. War zurzeit nicht so erfreulich, die bauten mal wieder um. Was dazu führte, dass alle Lebensmittel an andere Plätze gepackt wurden, da nützte Ruth der Einkaufszettel gar nichts, er war noch auf die alten Laufwege abgestimmt. Hoffentlich vergaß sie nicht wieder etwas Wichtiges. Kürzlich hatte sie den ganzen Sonntag über nicht ein Stückchen Schokolade im Haus gehabt. Jedes Versteck hatte sie abgesucht, nichts. Und Eveline um etwas Süßes zu bitten, das ging gar nicht. Sie hatte neulich ihr gegenüber volltönend behauptet, sie äße kaum noch Süßes, hätte es sich abgewöhnt, wie andere das Rauchen. Und wie andere den Alkohol hatte sie gedacht, es natürlich nicht ausgesprochen. Ein Glück, dass Eveline es bisher geschafft hatte, trocken zu bleiben.

Ruth packte ihre Einkäufe in den Kofferraum ihres Autos, ihres halben Daimler, wie sie ihn nannte: ein Smart. Allerdings ein Cabrio. Das war schon immer ihr Traum gewesen, bei schönem Wetter offen fahren, die Landschaft genießen. Zurzeit fuhr sie meistens nur den kurzen Weg aus der Tiefgarage des Hauses am Kirchberg zur Tiefgarage des Supermarktes und zurück. Wenn das mal jemandem auffiel, hatte sie eine Entschuldigung parat: Ich kann nicht mehr so viel tragen, mein Rücken, Sie verstehen? Tatsächlich trug sie ihre Einkäufe in zwei Etappen nach oben, sie konnte wirklich nicht mehr so schwer tragen. Auf dem Weg zum Aufzug überlegte Ruth, ob sie nicht doch einmal die viel gepriesene Osteopathin unten am Markt aufsuchen sollte. Man erzählte Wunderdinge von ihren Erfolgen. Ein Orthopäde würde nur sagen „Verschleiß“, vielleicht „in ihrem Alter“ anfügen. Wer wollte das schon hören? Als sie zum ersten Mal von der Osteopathie hörte, wusste sie nicht, was sie sich darunter vorstellen sollte. Als sie bei Google las, dass die Methode die Selbstheilungskräfte weckt, wurde sie aufmerksam. Schließlich sprach auch die Schulmedizin davon, dass man diese Kräfte wecken könnte. Na, ja, wenn der Rücken mal wieder zu rebellisch wird, dann weiß ich, was ich machen kann.

Kurz vor sechs Uhr. „Hallo, bist du fertig?“ Eveline rief an.
„Fast. Ist das nicht eigentlich eine merkwürdige Zeit für ein Abendessen, sechs Uhr? Andererseits – soll ja gesund sein, so früh zu essen.“
„Ja, soll es. Bring Appetit mit und gute Laune.“ Aufgelegt.
Was soll das denn heißen, fragte sich Ruth. Hatte sie nicht – fast – immer gute Laune? Zugegeben, es war hin und wieder vorgekommen, dass sie bei gemeinsamen Essen zu dritt leicht verstimmt gewesen war. Kleine Anfälle von Eifersucht. Früher hatte sie immer mal mit Wunderlich außer dem Haus Schlemmermahlzeiten genossen. Seit Eveline hier wohnte, hatte Wunderlich sich eher für sie interessiert und war mit ihr ausgegangen. Quatsch Eifersucht. Sie war mit ihm zum Essen gegangen, um etwas über bestimmte Hausbewohner zu erfahren. Na, ja, so ganz stimmte das nicht ...
Quatsch. Ruth zog eine Bluse an, eine Jacke darüber, kämmte ihre Haare und machte sich auf den Weg zum Speisesaal. Sechs Uhr.

Eveline und Wunderlich saßen schon da, natürlich in der Saalmitte, und unterhielten sich lebhaft. Eveline begleitete ihre Worte mit lebhaften Gesten, ihr rechter Zeigefinger stakste auf dem Tisch herum oder fuhr bestätigend durch die Luft. Was wollte sie ihm wohl erklären? Wunderlich hatte seinen Kopf auf den rechten Arm gestützt, ganz Bewunderung. Mit Recht, sagte sich Ruth, denn Eveline sah „entzückend“ aus, so hatte er mal gesagt. In Samt und Seide, buchstäblich, eine dezent gemusterte Seidenbluse und ein dunkles Samtjackett. Ruth sah es verhältnismäßig neidlos, so war das nun mal. Schlanke Frauen sahen immer besser aus als – weniger schlanke.
Beim Näherkommen fragte sie sich mal wieder: Waren die Haarstoppeln auf Wunderlichs Kopf blond oder grau? Hatte er eigentlich eher blaue oder graue Augen? Egal. Sie musste an ihre Überlegungen von eben denken und rollte ganz langsam als drittes Rad am Wagen auf die beiden zu.
Wunderlich sprang auf, tat begeistert – oder war er es wirklich? Ihr Selbstbewusstsein war sich nicht sicher.
„Ach, da ist sie ja, unsere Freundin Ruth.“ Unsere Freundin Ruth …
Ruth wählte den gleichen lockeren Ton, umarmte Eveline, gab Wunderlich die Hand. Er küsste sie – die Hand. Formvollendet.
Sie nahm neben Eveline Platz und griff nach der Speisekarte. Die beiden hatten anscheinend bereits gewählt, sie plauderten weiter. Drittes Rad.
Ruth war der Meinung, dass Hirsch, nämlich Hirschkalb, zarter schmeckte als Reh und wollte entsprechend wählen.
„Nehmt ihr eine Suppe vorher?“, fragte sie. Wunderlich fühlte sich aufgefordert, sie zu beraten. Eveline hörte schweigend zu. Ruth wählte die Consommé vom Fasan und Hirschkalbfilet mit Rosenkohl. Außer diesem Gericht hätte es nur Rehrücken mit den üblichen Obstgarnierungen gegeben, eine Beratung war also eigentlich überflüssig. Ruth dankte trotzdem, schließlich wollte sie was von ihm. Später. Wein gab es nicht zum Essen, daran war inzwischen auch Wunderlich gewöhnt. Und war Wasser nicht viel gesünder?

„Ich hatte Hans-Jürgen eben gefragt, ob er das Ehepaar Niemann kennt“, wandte sich Eveline an Ruth. Die sah von ihr zu ihm und wunderte sich erst einmal, dass Eveline Wunderlich anscheinend duzte. Was tat sich da hinter ihrem Rücken?
„Schön, dass es mal wieder ein jahreszeitliches Abendessen gibt, ich habe großen Appetit und habe mich den ganzen Nachmittag auf den Abend gefreut“, sagte sie. Wunderlich ließ sich nicht ablenken, grinste breit, sah Ruth an und meinte: “Schon wieder ein ungeklärter Todesfall, oder?“ Kurzes Schweigen, dadurch überbrückt, dass die Getränke gebracht wurden, Wasser mit und Wasser mit wenig Kohlensäure.
„Ich bin der Meinung, dass es sich um einen Fall von Sterbehilfe handelt.“ Eveline führte das Gespräch fort.
„Möglich, vielleicht sogar wahrscheinlich, die arme Gertrud hat sehr gelitten. Ich kannte die beiden bereits in meiner Solinger Zeit. Sie haben eine Nichte, die Ärztin ist …“
„Und eine Schwester, die Apothekerin ist“, ergänzte Eveline.
Die Fakten sind auf dem Tisch, dachte Ruth und wollte erst einmal abwarten, was Wunderlich dazu sagen würde.
„Man muss sehr vorsichtig sein mit Andeutungen“, sagte er und sah aus, als wüsste er mehr.
„Es hat da ein neues Gesetz zur Sterbehilfe gegeben und einen neuen Paragrafen im Strafgesetzbuch.“ Ruth hatte sich inzwischen kundig gemacht. Sie überlegte, ob sie weiterreden sollte. „Für Ärzte hat sich nichts geändert. Unangenehme Folgen.“
„Dann war es eben die Apothekerin.“ Wenn Eveline sich einmal in etwas verbissen hatte …
„Ob geschäftsmäßiges Handeln auch auf ehemalige Apothekerinnen zutrifft, das ist die Frage.“ Ruth hatte sich wirklich schlaugemacht.
Die Suppe kam und Ruth schlug vor, sich den schönen Abend nicht mit einem so traurigen Thema zu verderben.

Nach der Suppe griff Wunderlich den Fall Niemann wieder auf, unter einem anderen Aspekt.
„Ich habe übrigens den Niemann hin und wieder mit einer Dame hier aus dem Haus gesehen. Sie schienen sich gut zu kennen.“
Ruth sah auf. „Das könnte Hanne Hauser gewesen sein, eine frühere Kollegin von mir und auch von Herrn Niemann.“
„Und ich dachte, ich hätte ihn bei etwas Verbotenem erwischt. Er war nie ein Kind von Traurigkeit in dieser Hinsicht. Gertrud übrigens auch nicht.“
Männer sind genau solche Waschweiber wie Frauen, dachte Ruth. Fazit: Der Fall Niemann schien in mehrfacher Hinsicht interessant zu sein. Wieso fiel ihr jetzt der weinende Nachbar ein? Ruth hätte von der Trauerfeier berichten können, bei der sie die ganze Familie kennengelernt hatte, aber die kannte Wunderlich wahrscheinlich aus der Solinger Vergangenheit. Und tatsächlich, obwohl ein gut gefüllter Teller vor ihm stand, legte er das Besteck beiseite, wischte die Lippen gründlich ab, trank einen Schluck Wasser, hielt das Glas bedeutungsvoll in der Hand – und begann über die Söhne Niemann zu sprechen. Nur Gutes. Obwohl – so endete seine Geschichte – es doch seltsam sei, wie unterschiedlich erfolgreich Söhne mit der gleichen guten Ausbildung geraten können. Zur Trauerfeier war er nicht gekommen, weil er ein paar Tage nicht im Haus war.
Ruth und Eveline aßen weiter, Frauen können mehr als eine Sache gleichzeitig. Sie interessierten sich natürlich für die Familie – alles Verdächtige, wenn man die Sache ernst nahm. Die Söhne? Welchen Grund hätten sie haben sollen, die eigene Mutter zu vergiften? Schade, dass man nichts über den Inhalt des Testaments wusste, das ging wohl beiden Damen durch den Kopf.
„Frau Niemann soll noch ein neues Testament erlassen haben. Wurde da jemand bestraft?“, fragte Ruth zwischen zwei Happen Hirschkalb. Es sollte so beiläufig wie möglich klingen. Entbehrte jeder Wahrheit, aber das konnte Wunderlich ja nicht wissen.
„Möglich ist alles.“ Auch Wunderlich hatte inzwischen seine Mahlzeit fortgesetzt, war wohl nicht mehr in der Laune, aus der Schule zu plaudern, wie seine Miene ausdrückte. Fand er nicht genug Beachtung? Oder wusste er nichts vom Testament? Das war ein Schuss in den Ofen. Komische Redensart, dachte Ruth.

„Gibt’s eigentlich auch Nachtisch?“, fragte Eveline, als ginge sie die ganze Sache nichts an.
„Aber sicher“, sagte Wunderlich, „sie haben sich große Mühe gegeben. Mascarpone mit Weintrauben, passend zur Jahreszeit auf einem Bett von …“ Er war anscheinend froh, dass er wieder etwas zur Unterhaltung beitragen konnte.
Nach dem „fabelhaften“ Nachtisch und dem Espresso Macchiato war das traurige Thema Sterbehilfe vergessen. Zumindest Ruth war bewusstgeworden, wie nahe sie doch selbst diesem Thema waren.

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